Unsichtbar
wenn sie mit meinem Vater verheiratet blieb, konntest ihn nicht heiraten. Wie hat Born reagiert?
Unglaublich großherzig. Er sagte, er verstehe, warum sie das nicht machen könne, er bewundere sie für ihre Standhaftigkeit und ihren Mut, er halte sie für eine ganz außerordentliche und edelmütige Frau. Damit hätte wohl niemand gerechnet, aber so war's. Er benahm sich einfach nur gut.
Wie lange hat Ihr Vater dann noch gelebt?
Anderthalb Jahre. Er starb im Januar neunzehnhundertsiebzig.
Hat Born ihr dann noch einmal einen Heiratsantrag gemacht?
Nein. Er hat Paris nach achtundsechzig verlassen und eine Professur in London angenommen. Er kam zur Beerdigung meines Vaters, und zwei Wochen später schrieb er meiner Mutter einen langen, herzlichen Brief über die Vergangenheit, aber das war's dann auch endgültig. Von Heiraten war nie mehr die Rede.
Und Ihre Mutter? Hat sie einen anderen Mann gefunden?
Sie hatte im Lauf der Jahre ein paar Freunde, aber geheiratet hat sie nicht mehr.
Und Born ist nach London gegangen. Haben Sie ihn jemals wiedergesehen?
Einmal. Ungefähr acht Monate nachdem meine Mutter gestorben war.
Und?
Tut mir leid. Ich glaube nicht, dass ich darüber sprechen kann. Warum?
Weil ich, wenn ich versuchen würde, Ihnen das zu erzählen, nicht einmal ansatzweise einen Begriff davon vermitteln könnte, was für eine seltsame und beunruhigende Erfahrung das für mich war.
Sie wollen mich auf die Folter spannen, oder?
Nur ein bisschen. Um Sie zu zitieren, ich kann Ihnen nichts erzählen, aber Sie können etwas darüber lesen, wenn Sie wollen.
Ah, verstehe. Und wo befindet sich dieser Ihr geheimnisvoller Text?
In meiner Wohnung. Ich führe seit meinem zwölften Lebensjahr ein Tagebuch, und über das, was sich bei meinem Besuch in Rudolfs Haus zugetragen hat, habe ich einige Seiten geschrieben. Ein Augenzeugenbericht aus nächster Nähe, wenn man so will. Das könnte Sie interessieren. Wenn Sie wollen, kopiere ich die Seiten und bringe sie Ihnen morgen vorbei. Wenn Sie nicht da sind, gebe ich sie am Empfang ab.
Danke. Das ist sehr großzügig von Ihnen. Ich kann es kaum erwarten, das zu lesen.
Und jetzt, sagte Cecile, griff mit breitem Grinsen in ihre Ledertasche und zog ein großes rotes Notizbuch hervor, wollen wir mit der Umfrage des CNRS weitermachen?
Als meine Frau und ich am nächsten Nachmittag nach einem ausgiebigen Mittagessen mit ihrer Schwester ins Hotel zurückkamen, wartete das Päckchen bereits auf mich. Den fotokopierten Seiten ihres Tagebuchs hatte Cecile ein kurzes Begleitschreiben beigelegt. Sie dankte mir für den Whiskey, für meine Geduld mit ihren grotesken und unverzeihlichen Tränen und dafür, dass ich so viel Zeit geopfert hatte, um ihr von Adam zu erzählen. Dann bat sie um Nachsicht mit ihrer unleserlichen Handschrift und bot mir Hilfe an, falls ich beim Entziffern auf Schwierigkeiten stoßen sollte. Ich fand ihre Schrift gut lesbar. Jedes Wort war deutlich zu erkennen, kein einziger Buchstabe, kein Satzzeichen stellte mich vor ein Rätsel. Das Tagebuch war natürlich auf Französisch geschrieben, und was nun folgt, ist meine Übersetzung, die ich mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorin hier einfüge.
Ich habe nichts mehr zu sagen, Cecile Juin ist die letzte Person aus Walkers Geschichte, die noch am Leben ist, und weil sie die letzte ist, scheint es mir angemessen, dass sie das letzte Wort haben soll.
CECILE JUINS TAGEBUCH
27. 4. Heute ein Brief von Rudolf Born. Erst jetzt, sechs Monate danach, hat er von Mutters Tod erfahren. Wie lange ist es her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen, das letzte Mal von ihm gehört habe? Zwanzig Jahre, denke ich, vielleicht fünfundzwanzig.
Er klingt verzweifelt, erschüttert von der Nachricht. Wie kann ihm das jetzt noch so viel bedeuten, nach all diesen Jahren des Schweigens? Er schreibt wortreich von ihrer Charakterstärke, ihrer würdevollen Haltung und Herzenswärme, ihrer Fähigkeit, sich auf andere einzustellen. Er habe nie aufgehört, sie zu lieben, sagt er, und jetzt, da sie diese Welt verlassen habe, sei ihm, als habe mit ihr auch ein Teil von ihm die Welt verlassen.
Er lebt im Ruhestand, ist einundsiebzig, unverheiratet, bei guter Gesundheit. Seit sechs Jahren lebt er auf Quillia, einer kleinen Insel zwischen Trinidad und den Grenadinen, dort, wo Atlantik und Karibik ineinander übergehen, etwas nördlich des Äquators. Ich habe noch nie davon gehört. Muss dran denken, das nachzuschlagen.
Im letzten Satz
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