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Unsichtbar

Unsichtbar

Titel: Unsichtbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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des Briefs bittet er um Nachrichten von mir.

    29. 4. Ich habe R. B. geantwortet. Viel freimütiger, als ich beabsichtigte, aber als ich einmal von mir zu erzählen anfing, fiel es mir schwer, damit aufzuhören. Wenn er den Brief erhält, wird er von meiner Arbeit erfahren, von meiner Ehe mit Stephane, von Stephanes Tod vor drei Jahren, und wie einsam und ausgebrannt ich mich fast die ganze Zeit über fühle. Ich frage mich, ob ich nicht ein wenig zu weit gegangen bin.
    Wie sind meine Gefühle für diesen Mann? Kompliziert, zwiespältig, eine Mischung aus Mitgefühl und Gleichgültigkeit, Freundschaft und Argwohn, Bewunderung und Belustigung. R. B. besitzt viele hervorragende Eigenschaf ten. Hohe Intelligenz, gute Manieren, er war großzügig und lachte gern. Nach Vaters Unfall trat er auf den Plan und wurde unsere moralische Stütze, der Fels, auf dem wir viele Jahre lang standen. Mutter gegenüber benahm er sich wie ein Heiliger, ein ritterlicher Gefährte, hilfsbereit und liebevoll, immer zur Stelle, wenn er gebraucht wurde. Und was mich betrifft, die noch nicht einmal zwölf war, als unsere Welt in Stücke brach - wie oft vertrieb er meinen Trübsinn mit seinen aufmunternden und lobenden Worten, mit seinem Stolz auf meine kümmerlichen Leistungen und seiner Nachsicht mit meinen pubertären Kümmernissen? So viele positive Eigenschaften, so vieles, wofür ich ihm dankbar sein muss, und doch sträube ich mich noch immer gegen ihn. Hat das mit unseren heftigen Meinungsverschiedenheiten im Mai 68 zu tun, mit diesen fieberhaften Wochen, in denen wir nichts als Streit miteinander hatten, in denen ein Riss zwischen uns entstand, der sich nie wieder vollständig kitten ließ? Möglich. Aber ich sehe mich gern als Menschen, der nicht nachtragend ist, der fähig ist, anderen zu verzeihen - und im Innersten bin ich davon überzeugt, dass ich ihm längst verziehen habe. Verziehen, weil ich, wenn ich jetzt an diese Zeit denke, lachen kann und keinen Zorn empfinde. Stattdessen empfinde ich Zweifel, und die Saat für diese Zweifel war schon Monate zuvor gelegt worden - im Herbst, als ich mich in Adam Walker verliebte. Der gute Adam, der Mutter gegenüber diese schrecklichen Beschuldigungen gegen R. B. erhoben hat. Unmöglich, ihm zu glauben, aber jetzt, nachdem so viele Jahre vergangen sind, jetzt, da man Adams Beweggründe für solche Behauptungen überdacht und analysiert und immer wieder untersucht hat, weiß man kaum noch, was man denken soll. Mit Sicherheit gab es böses Blut zwischen Adam und R. B., mit Sicherheit hatte Adam das Gefühl, es wäre nur zu Mutters Bestem, die Hochzeit abzusagen, und deshalb dachte er sich diese Geschichte aus, um sie zu erschrecken und von ihrem Vorhaben abzubringen. Eine entsetzliche Geschichte, zu entsetzlich, um wahr zu sein, und folglich eine Fehlkalkulation, die er sich selbst zuzuschreiben hat, aber im Grunde war Adam ein guter Mensch, und wenn er meinte, es gebe einen dunklen Fleck in R. B.s Vergangenheit, dann gab es vielleicht wirklich einen. Daher meine Zweifel, die jahrelang an mir genagt haben. Aber ich kann einen Mann nicht allein deshalb verurteilen, weil es Zweifel an ihm gibt. Es muss Beweise geben, und da es keine Beweise gibt, muss ich R. B. beim Wort nehmen.

    11. 5. Eine Antwort von R. B. Er schreibt, er lebe zurückgezogen in einem großen, aus Stein gebauten Haus mit Blick auf den Ozean. Das Haus heißt Moon Hill, und die Verhältnisse dort sind recht primitiv. Die Fenster sind breite, in den Fels gehauene Öffnungen ohne Glas davor. Die Luft weht herein, der Regen weht herein, Insekten und Vögel wehen herein, und es gibt kaum einen Unterschied zwischen drinnen und draußen. Er besitzt einen eigenen Generator zur Stromerzeugung, aber der geht oft kaputt, und die Hälfte der Zeit werden die Zimmer mit Petroleumlampen beleuchtet. In dem Haus leben vier Personen: eine Art Hausmeister und Mädchen für alles namens Samuel, eine alte Köchin, Nancy, und eine junge Putzfrau, Melinda. Es gibt Telefon und Radio, aber keinen Fernseher, keine Postzustellung und kein fließendes Wasser. Briefe holt Samuel vom Postamt im einzigen Ort auf der Insel ab (achtzehn Kilometer entfernt), Wasser wird in Holzfässern über den Waschbecken und Toiletten vorrätig gehalten. Duschwasser kommt aus einer Plastiktüte, die über Kopfhöhe an einem Haken hängt. Die Landschaft ist üppig und öde zugleich. Überall mächtig wuchernde Vegetation (Palmen, Gummibäume, hundert Arten von

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