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Unsichtbare Spuren

Unsichtbare Spuren

Titel: Unsichtbare Spuren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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Chaos, mehr denn je hasste er die Welt um sich herum, ohne genau definieren zu können, warum es gerade jetzt so extrem war. Unterwegs hielt er an einem Ort, den er schon einige Male aufgesucht hatte, und zog sich um und verstaute die Uniform wieder im Kleidersack. Danach stellte er auf Polizeifunk um und hörte zum zweiten Mal, dass die Leiche von Melanie in Neversdorf gefunden worden war und Hauptkommissar Henning die Untersuchungen leitete. Ja, dachte er und ballte die rechte Faust. Ich hab ’ s doch gewusst. Sören Henning, wie lange hab ich auf diesen Moment gewartet. Jetzt endlich bist du da.
    Um achtzehn Uhr kam er zu Hause an. Seine Schuhe waren zwar nicht schmutzig, aber er streifte sie dennoch gewohnheitsmäßig vor der Haustür ab und stellte sie auf den Lappen, der im Flur lag. Auf Strümpfen schlich er ins Wohnzimmer, wo Monika und seine Mutter saßen, beide sonntäglich devot gekleidet (wie Butcher zynisch dachte, es aber nie auszusprechen gewagt hätte). Jede hatte eine Tasse Tee vor sich stehen, und jede las in einem Buch. Eine erdrückende, eine erbärmliche Stille, wie Butcher fand. Lediglich die Stimmen der Mädchen hörte er ganz leise aus dem ersten Stock, wohin sie meistens verbannt wurden, weil sowohl Monika als auch seine Mutter großen Wert auf Disziplin legten und vor allem am Sonntag lautes Spielen verboten war.
    » Wo warst du so lange? «, wurde er gefragt, ohne dass sie ihn dabei ansahen. Es wären ohnehin nur kalte Blicke gewesen .
    » Wir haben nach der Übung noch ein Bier getrunken und uns unterhalten. War irgendwas? «
    » Was soll denn gewesen sein? «
    » Stimmt auch wieder. Ich geh nach unten, hab noch zu tun. «
    In seinem Arbeitszimmer setzte er sich vor den Computer, schaltete ihn ein und nahm ein Buch mit Gedichten von Heinrich Heine aus dem Regal. Er schlug es auf und fand auf Anhieb das Gedicht, das ihn interessierte, zu oft schon hatte er es gelesen. Er tippte es ab und druckte es aus, doch bei näherem Hinsehen gefiel es ihm doch nicht so sehr, es passte nicht zu Melanie Schöffer. Sie war viel zu vulgär gewesen, zu obszön .
    Fünfzehn und verdorben bis ins Mark, dachte er. Na ja, jetzt nicht mehr, aus die Maus. Er würde Henning ein anderes schicken, und er wusste auch schon, welches. Er gab es in den PC ein, druckte es aus und steckte das Gedicht zusammen mit einem Foto von Melanie Schöffer in einen Umschlag, den er mit einem Klebestift versiegelte. Anschließend legte er eine CD mit einem Computerspiel ein, setzte Kopfhörer auf un d s pielte eine halbe Stunde lang einen schießwütigen Helden, um seine Aggressionen loszuwerden, was ihm aber nicht gelang. Der Aufruhr in ihm wurde immer mächtiger, alles in ihm war zum Zerreißen angespannt. Mehrere Minuten tigerte er in dem Zimmer auf und ab, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Sein Blick war wie immer in diesen Momenten, die mal länger und mal kürzer waren, dumpf, seine Kiefer mahlten aufeinander, er war eine ganze Weile zu keinem klaren Gedanken fähig, bis sich der düstere Nebel lichtete. Er dachte an Carina Niehus und Jule, dieses kleine, hilflose Mädchen, das aber immer schneller älter werden und schon bald nicht mehr klein und schon gar nicht hilflos sein würde. Und doch war dieser Nachmittag etwas Besonderes gewesen, ohne dass er es hätte beschreiben können. Er begab sich in sein Fotolabor und betrachtete die Fotos an der Wand. Noch einige mehr, und er würde zusätzlichen Platz frei machen müssen .
    Er atmete schnell, sein Herz klopfte mit kräftigem Schlag in seiner Brust, sein Kopf schien zu zerplatzen. Am liebsten hätte er alles kurz und klein geschlagen. Und noch viel lieber hätte er sich in sein Auto gesetzt, um noch ein wenig durch die Gegend zu fahren. Dieses Haus erdrückte ihn, nur in diesem Raum fühlte er sich einigermaßen wohl. Ein Haus, fast wie ein riesiges Grab mit lebenden Toten, seiner Frau und seiner Mutter. Er hasste es, wenn er mit ihnen am Tisch saß und das Essen schweigend eingenommen wurde. Wenn er von seiner Mutter und Monika beobachtet wurde, lauernd wie Raubtiere, nur zu gern bereit, sich gleich auf das Opfer zu stürzen, um es zu zerfleischen. Wenn man ihn behandelte wie ein unmündiges kleines Kind, dem alles vorgeschrieben und nichts erlaubt wurde. Er hatte keine Macht in diesem Haus, er würde sie niemals haben. Wenn er draußen war, schon. Wenn er durch die Städte und Dörfer fuhr, ziellos und doch immer mit einem Ziel vor Augen.
    Er zog den Zettel mit der

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