Unsterblich 04 - Unsterblich wie der Morgen
seit sie hier wohnte. Lea war beinahe im zweiten Stock angelangt, als sie etwas hörte. Sie blieb stehen und schaute sich um.
Nichts zu sehen.
»Liam?«
Stirnrunzelnd ging Lea weiter. Sie musste noch müder sein, als sie gedacht hatte. Erst als sie beinahe oben angekommen war, hörte sie es wieder: eine Art Flüstern.
»Wer ist da?«
»Bist du Lea?«, fragte eine zögernde Stimme. Lea erkannte die Frauenstimme nicht, aber sie erkannte die Angst darin. Jeder Gedanke an Kopfschmerzen und an ein Schläfchen war sofort verflogen.
»Ja.«
Ein Seufzer, dann Stille.
»Möchtest du mit raufkommen und reden?«, fragte Lea behutsam. Gewöhnlich lud sie keine Geister in ihre Wohnung ein, aber sie hatte das Gefühl, dass dieser hier besonders verwirrt und hilfsbedürftig war.
»Bin ich wirklich tot?«
Das war die Frage, vor der sie sich am meisten fürchtete, eine Frage, die man ihr erst zweimal gestellt hatte. Dieser Geist, diese Seele, konnte noch nicht lange tot sein. Wahrscheinlich war sie gerade erst gestorben.
»Komm«, sagte Lea ermunternd, »komm mit rein, da können wir uns in Ruhe hinsetzen und unterhalten.«
»Nein!«, rief die andere panisch aus. »Ich bin wirklich tot, oder?«
»Ja.« Lea nickte. »Es tut mir leid.«
»Passiert das jedem, wenn er stirbt? Müssen alle ... hierbleiben?«
»Nein, nur die, die hier noch etwas zu erledigen haben.«
»Was heißt das?«
»Das werden wir schon rausfinden. Hör zu, wie heißt du?«, fragte Lea.
»Mary.«
Das enge, finstere Treppenhaus war kein Ort für solche Gespräche. Lea wusste, dass sie äußerlich ganz ruhig und gelassen bleiben musste, damit diese arme, verwirrte Seele nicht noch mehr Angst bekam.
»Mary, ich weiß, du hast einen ziemlichen Schock erlitten, aber ich muss mich jetzt erst mal hinsetzen. Dann können wir in Ruhe reden.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Lea weiter die Treppe hinauf. Sie schloss ihre Türe auf, schüttelte ihre hochhackigen Schuhe ab und hängte ihre Tasche an einen der Garderobenhaken in der winzigen Eingangsdiele mit der rot-weiß-gestreiften Tapete.
Dann ging sie ins Wohnzimmer, in dem nur ein hässliches rotes Zweisitzer-Sofa, ein nicht viel schönerer brauner Sessel und ein kleiner Sofatisch Platz hatten. Vervollständigt wurde dieses Ensemble durch einen ebenso hässlichen, quadratischen Wohnzimmerteppich. Lea ließ sich dankbar auf das Sofa plumpsen und zog die Beine an.
Sie holte tief Luft. »Bist du da, Mary?«
»Ja, ich bin da.«
Mary klang überrascht, aber gefasst. Lea hatte mit Angst und Unglauben gerechnet. Sie überlegte sich genau, was sie als Nächstes sagen sollte, aber Mary kam ihr zuvor.
»Dies ist nur eine Zwischenstation, das fühle ich. Dahinter wartet das Jenseits.«
Lea hatte schon oft vom Jenseits gehört. Soweit sie »ihre« Geister verstanden hatte, war das ein warmer, friedvoller, guter Ort. Sie selbst konnte sich darunter nichts vorstellen. Alles, was sie wusste, war, dass manche Seelen dorthin strebten und andere davor zurückschreckten.
»Willst du dorthin, Mary?«
»Ja«, sagte die Stimme voller Überzeugung. »Kannst du mir helfen?«
Lea zog den warmen Wollstoff ihres Kleides über die kalten Beine. Sie hätte gerne die Heizung angeschaltet, aber im Moment brauchte Mary ihre volle Aufmerksamkeit. Sie wollte ihr zu verstehen geben, dass jemand für sie da war.
»Ich werde mein Bestes tun, aber du wirst mir helfen müssen. Ich habe das schon ein paar Mal gemacht, Mary, und du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass du weißt, was dich hier noch zurückhält.«
»Wirklich? Wie kann das sein?«
»Jede Seele weiß es. Du musst nur überlegen. Also, Mary, denk gut nach. Denk an dein Leben. Was hat zu deinem Tod geführt? Gibt es etwas, das du noch erledigen musst?
Denk nach, und du wirst es fühlen, wenn du auf das Richtige gekommen bist.«
Stille. Lea versuchte sich vorzustellen, wo Mary war. Ob sie auf und ab ging? Oder saß sie im Sessel? Wie sah sie aus? Lea versuchte gewöhnlich, Distanz zu halten zu jenen Seelen, die ins Jenseits wollten, sich nicht mit ihnen anzufreunden. Dann würde sie sie auch nicht vermissen, wenn sie weitergegangen waren. Daher stellte sie auch so wenig Fragen wie möglich.
Die weiße Plastikuhr an der Wand der früheren Küche - die sie nun in eine Dunkelkammer umfunktioniert hatte - tickte monoton. Tick-tack, tick-tack ...
»Jetzt weiß ich es!«, stieß Mary plötzlich hervor. Ihre Stimme kam von dem kleinen Fenster, an dem ein
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