Unsterbliche Bande
nickte. Jetzt war sie ehrlich.
»Du hast ein schlechtes Gewissen, weil du Cynna benutzt hast, um an ihren Ehemann heranzukommen, den du verführen wolltest.«
»Das hört sich so moralisierend an.«
»Für mich hört es sich an, als würde es die Sache ziemlich genau treffen. Hast du mit irgendjemandem, der kein Nokolai ist, über Cullens Werkstatt oder das, was er dort tut, gesprochen?«
»Nein, nicht einmal!«
Rule nickte wieder.
»Nur, um das festzuhalten … ist denn dein Plan, Cynna zu benutzen, um ihren Ehemann zu verführen, aufgegangen?« Lily kannte die Antwort. Aber sie wollte, dass auch Cynna es wusste – und der gesamte Clan.
»Nein, überhaupt nicht. Er sagte … es hat nicht geklappt.« Sherrianne lächelte Lily an und zuckte die Achseln. Dem Lächeln haftete ein Hauch von Verlegenheit an, aber vor allem auch Erleichterung, dass es ausgestanden war. Schließlich war sie als ein Clanmitglied großgezogen worden. Mit jemandem schlafen zu wollen war nichts Schlechtes. Verlegen war sie vermutlich, weil sie ihm hinterhergelaufen war, und vielleicht auch, weil sie Cynna benutzt hatte. Aber am Ende hatte sie sich eben doch mit einem Nein abgefunden. Sie hatte die Grenze nicht überschritten.
Rule nickte erneut.
»Okay. Danke für deine Mitarbeit. Du kannst jetzt gehen.«
Stattdessen wandte sie sich an Cynna. »Cynna –«
Cynnas Gesicht war steinern. »Nicht jetzt.«
»Aber ich will, dass du weißt, dass ich –«
»Sherrianne«, grollte Isen. »Geh. Jetzt.«
Sie seufzte und gehorchte.
Lily drehte sich zu der anderen Frau um. Die junge, wütende, trotzige, die aufmerksam verfolgt hatte, was Lily und Sherrianne gesagt und getan hatten. »Brenda. Komm her, bitte.« Es würde ihr nicht gefallen, dass man sie zu sich rief wie ein Kind.
Ihre Lippen wurden schmal, bevor ihr einfiel, den Kopf zu senken und ihre Empfindungen wieder zu verstecken. Langsam ging sie zu Lily hinüber.
»Bist du auch auf dem Clangut aufgewachsen?«
»Nein.«
Lily wartete, aber Brenda war clever oder dickköpfig genug, zu schweigen. »Isen?«
»Als Brenda fünf oder sechs war«, sagte Isen, »entschied sich ihre Mutter für eine religiöse Konversion. Sie wurde wiedergeboren, und ihre Meinung zur Sexualität änderte sich entsprechend. Von diesem Zeitpunkt an wollte sie, dass Brenda nicht mehr so viel Zeit hier bei uns verbrachte. Sie ist eine Frau mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, daher erlaubte sie Brendas Vater sie zu sehen, aber nur, wenn es nicht auf dem Clangut stattfand. Als Brenda achtzehn wurde, beschloss sie, ihn – und uns – besser kennenzulernen. Sie besuchte ihren Vater einige Male und fragte ihn dann letzten Mai, ob sie den Sommer über bei ihm wohnen könne. Uns hat es sehr gefreut.«
Am liebsten hätte Lily Isen gefragt, welches Brendas Lieblingsfarbe war, was sie letzte Woche zu Weihnachten bekommen hatte und in welchem Alter sie ihren ersten Zahn verloren hatte. Vielleicht wusste er es. Es schien, als würde er alles über jedes Mitglied seines Clans wissen. »Dann ist sie seit Mai hier?«
»Nein, im September ging sie aufs College, aber dort war sie nach den Vorfällen auf der Kundgebung von Humans First nicht mehr sicher, deshalb kam sie hierher zurück. Zuerst schien es ihr nicht zu gefallen, das hat sich aber, glaube ich, jetzt geändert.«
Dass man über sie statt mit ihr sprach, hatte die erwartete Wirkung. Brenda kochte vor Wut. »Ich weiß nicht, warum das überhaupt wichtig ist! Was geht dich das an, wo ich als Kind gelebt habe?«
»So werden Ermittlungen nun einmal geführt«, sagte Lily milde. »Ich stelle alle möglichen neugierigen Fragen, die, wie sich am Ende zeigen wird, zu nichts führen. Aber dann und wann ist eben doch eine sehr wichtige dabei. Wer ist hier dein Freund?«
Brenda blinzelte verblüfft. »Was – ich weiß nicht, was du meinst.«
»Gefällt es dir besser, wenn ich Geliebter sage? Das hört sich vermutlich erwachsener an. Du hast einen Geliebten hier, nicht wahr?«
Nun versteckte sie sich nicht mehr hinter ihrem Haar, sondern warf es mit einem stolzen knappen Schwung zurück. »Das geht dich nichts an.«
»Doch, tut es. Vor allem, wenn er kein Nokolai ist. Und das ist er nicht, stimmt’s Brenda?«
Sie antwortete nicht, aber sie zog sich auch nicht wieder zurück. Ihr Kopf blieb oben. Ihr Blick forderte Lily heraus, ihr mehr zu entlocken.
Sie war so jung. Dieses Mal fragte Lily nicht, sondern stellte eine Tatsache fest. »Dein Geliebter hat
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