Unsterbliche Küsse
freien Platz neben sich. »Setz dich zu mir. Wir stellen uns dann gemeinsam vor, wie heiße Kastanien und Kakao mit Marshmallows duften und schmecken. Ich weiß nur, wie Schokolade riecht, habe aber nie welche probiert. Wie schmeckt denn so was?«
Er wusste nicht, wie Schokolade schmeckt? »Da hast du was versäumt. Ich liebe Schokolade. Oder zumindest früher mal.« Ihr kam zu Bewusstsein, dass sie nie wieder welche essen würde. »Hast du wirklich nie auch nur ein Stückchen probiert?«
Er schüttelte den Kopf. »In London kennt man Schokolade erst seit Ende der 1650er-Jahre. Zu dieser Zeit war ich schon fast sechzig Jahre lang Vampir.«
Dixie nahm neben ihm Platz und stellte sich vor, dass sie einen Mann aus der Vor-Schokoladen-Ära liebte. Das stimmte sie nachdenklich. Überhaupt war Nachdenklichkeit die vorherrschende Gemütslage dieser Tage.
»Was liest du denn gern?« Auswahl hatte sie genug. Sämtliche Räume waren voll mit Büchern, aber sie hatte sich bereits entschieden. Sie ging nach oben, um die letzten Tagebücher ihrer Tanten zu holen, und nahm dann in Erwartung eines langen Leseabends wieder neben Christopher Platz.
Sie war schon nach wenigen Stunden fertig – Vampire konnten schnell lesen –, was sie fast ein wenig bedauerte. Sie fand, dass ihre Großtanten wirklich keine angenehmen Vorfahren waren – ihr Metier waren Erpressereien, Betrug und Wucher –, aber ein Ende, wie es ihre Tagebücher vermuten ließen, hatten sie auch nicht verdient.
Was konnte sie tun? Eine ganze Menge, wenn man bedachte, dass sie schnell war wie ein Kleinwagen, und, na ja, Geschosse prallten zwar nicht von ihr ab, waren aber auch nicht tödlich. Sie blendete ihre Gedanken sorgfältig aus, steckte ihre Nase wieder in das Buch und dachte nach. Alle Fäden liefen auf Sebastian zu. Sie würde ihm seine Missetaten heimzahlen. Das war sie Christopher, Stanley, Vernon und ihren Tanten schuldig – und allen, die er möglicherweise sonst noch auf dem Gewissen hatte.
Sicher, am Ende würde sie ihm vielleicht auch noch zum Opfer fallen, aber was hatte sie schon zu verlieren. Ihre Tage waren ohnehin gezählt, es sei denn, sie fände plötzlich Gefallen an dem Gedanken, sich auf ewige Zeiten von Plasma-Snacks zu ernähren. Denn ihren eingefleischten Widerwillen zu saugen würde Christopher ihr niemals ausreden können. Somit schien nichts passender und naheliegender, als diese Rechnung vor ihrem endgültigen Ende noch zu begleichen. Sebastian mochte sie ruhig für tot halten. Sie würde ihn eines Besseren belehren.
»Einen Penny dafür.« Sie sah Christopher erschrocken an.
»Deine Gedanken, einen Penny für sie.« Mit so einem Lächeln könnte er ihre Seele ausspionieren. Sie verrammelte ihre Gedanken.
»Ich muss allein sein, Christopher. Ich brauche Zeit für mich.« Sie ignorierte sein schockiertes Gesicht. »Ich gehe zurück nach Orchard House. Für eine Zeitlang.«
Er sah aus wie ein Ertrinkender ohne Rettungsweste. »Du willst mich verlassen?«
Der Schmerz in seinen Augen riss ihr beinah das Herz aus dem Leibe. Wie gerne hätte sie jetzt richtig tief durchgeatmet. »Letzte Nacht wäre ich fast wahnsinnig geworden. Zu erfahren, dass man zwei Wochen Zeit hat, um sich entweder für die Unsterblichkeit zu entscheiden oder für das Ende, ist … ein dicker Brocken. Ich brauche ein paar Tage, um mir Klarheit zu verschaffen.«
Er lächelte erleichtert. »Zwei oder drei Tage?«
Sie fühlte sich wie der letzte Abschaum, weil sie ihn angelogen hatte. Nun ja, eine Lüge war es nicht. Sie hatte ja eigentlich die Wahrheit gesagt, nur nicht die ganze. »In etwa.« So lange dürfte es gar nicht dauern. »Kann ich von York aus den Nachtzug nehmen?«
»Das funktioniert nicht. Du würdest im Morgengrauen in London festsitzen. Ich fahr dich hin.«
Nein, auf gar keinen Fall! Sie wollte ihn dort nicht bei sich haben. »Denk an die Polizei.«
»Wir fahren nachts, und ich setz dich ein paar Meilen vorher ab. Das letzte Stück kannst du ja laufen. Achte aber darauf, dass du mindestens eine Stunde vor Tagesanbruch sicher im Haus bist.« Er fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. »Ich steige in der Zwischenzeit bei Tom ab. Schick mir eine Gedankenbotschaft, wenn du mich brauchst. Ich bin da.«
Er hatte ihr alles brav geglaubt und auch noch Hilfe angeboten. Sie fühlte sich elend. »Ich will nicht, dass du meinetwegen in Gefahr gerätst.«
»Notfalls sind wir immer noch schneller als die Polizei.« Er schaute auf die Uhr.
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