Unsterbliche Küsse
trieben. Und er würde sie nie mehr wieder sehen!
»Ich gehe zurück, Tom, an unseren Zufluchtsort. Vielleicht hätte ich ihn nie verlassen sollen.« Christopher sah auf seine Füße und gönnte sich den Spaß, die Schnürsenkel allein durch Gedankenkraft auf- und wieder zuzubinden. Letzte Nacht hatte er St. Pauls erklommen. Seine körperlichen und geistigen Kräfte waren zur Gänze zurück, aber was sollte er ohne Dixie damit anfangen?
Tom unterzog seinen Freund einem langen, intensiven Blick. Gut möglich, dass er seine Gedanken las.
»Kit, du bist verletzt, innerlich, wo nicht einmal wir uns selbst heilen können. Du brauchst Zeit. Weißt du noch, als wir junge Kerle waren? Gebrochene Herzen heilen durchaus. Aber es dauert.«
Ihn plagten Zweifel. »Was ist mit Dixie? Sie kann nicht wie ein Vampir einfach ein Nickerchen von ein paar Jahrzehnten halten, um ihre Herzschmerzen zu heilen. Dazu kommt, dass ich ihr das Herz nicht nur gebrochen, sondern in tausend Stücke zerschlagen habe.«
»Du hast sie nicht absichtlich verletzt. Es ist einfach passiert.«
Christopher wandte sich Justins Stimme zu. »Bist du zurückgekommen, um sicherzustellen, dass ich auch wirklich gehe?«
»Nein, ich will dir nur sagen, dass sie in Sicherheit ist. Wir werden ein Auge auf sie haben.«
»Um ihretwillen oder unseretwillen?«
Justin schüttelte den Kopf. »Du warst schon immer ein zynischer junger Bursche. Um unseretwillen natürlich, aber in erster Linie um ihretwillen. Nur wenige Sterbliche haben so viel Mut und Zutrauen wie sie. Fast verdient sie es, unsterblich zu werden.«
Ein Stück Hoffnung flackerte in Christophers wundem Herzen auf. »Meinst du das ernst?«
Justin hob eine Hand.
»Kit, versteh doch! Sie ist jung und gesund, keinerlei Anzeichen von Krankheiten. Du kennst doch die Regeln der Kolonie. Kein Mord, keine Verwandlung vor dem natürlichen Tod. Vergiss es.«
Er hätte sich keinen falschen Hoffnungen hingeben sollen. Dixie war sterblich. In diesen Zeiten kam es selten vor, dass junge Frauen über Nacht wegstarben, und ihm blieb nichts anderes übrig, als die fraglichen Jahrzehnte durchzuschlafen. Bis sie eines Tages eines natürlichen Todes sterben würde – und waren ihre Großtanten nicht alle über neunzig geworden? Er hatte eine lange Ruhephase vor sich.
Tom goss drei Gläser Portwein ein. Das üppige Bouquet erinnerte Christopher an warme, sonnige Weinberge – und an den Geschmack von Dixies Lippen. »Eine neue Sorte?«
Tom lächelte, als er das Glas hob. »1800er-Jahrgang, noch vor der Reblaus. Dir zu Ehren.«
Christopher nickte anerkennend. »Sicher eine der letzten Flaschen in ganz London.«
»Die vorletzte. Die andere wird nach deiner Rückkehr geköpft.«
Seine Rückkehr! Er würde Jahr um Jahr verschlafen, während Dixie ihn langsam vergessen, altern und sterben würde. Aber sie würde ihn nie vergessen, so wie er sie auch nie vergessen könnte.
Er musste zu ihr, nur um sie zu sehen, ein letztes Mal. Seine Kräfte reichten allemal, um sich zu verwandeln, zu ihr zu fliegen und sein Refugium in Whitby dennoch vor dem Morgengrauen zu erreichen.
Sie saßen und tranken in völliger Stille. Nur die Stimmen der Fußgänger draußen vor dem Fenster waren zu hören, das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und das unablässige Rauschen des Verkehrs.
»Es wird Zeit«, sagte Justin leise. Vielleicht hatte er aber auch gar nichts gesagt.
Christopher nickte und ging zum Fenster, öffnete es und blickte auf die Straße hinunter und hinauf in das dunstige Blau des nächtlichen Großstadthimmels.
Bereits mit einem Knie auf der Fensterbank, schaute er sich um zu seinen Freunden. Seinen ältesten Freunden.
»Bald«, sagte er, positionierte sich auf dem Außensims und schoss wie ein Blitz in den dunklen Nachthimmel.
Tom blickte ihm nach, viel weiter als die Augen eines Sterblichen den dunklen Fleck im Azur je hätten verfolgen können. »Er fliegt westwärts, nicht nordwärts.«
»Ja.«
»Schwachkopf«, murmelte Tom.
Justin klopfte ihm auf die Schulter. »Das verbindet uns mit den Gemeinsterblichen.«
Sie lag vor ihm, in den weißen Laken, wie ein schöner Traum. Ihre zarte, von kastanienfarbenen Locken umrahmte Haut schimmerte im Mondlicht. Christopher zwang sich, auf dem Fensterbrett zu bleiben.
Er konnte jederzeit näher treten, hätte es gedurft, schließlich hatte sie ihm ihr Blut verabreicht und neues Leben gespendet. Würde er aber so weit gehen, sie zu berühren, dann würden all seine
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