Unsterbliche Liebe
Revolutionäre damals und die Vulpari noch heute taten. Warum sollte ein einziger Vampir das Recht haben, über den ganzen restlichen Clan zu bestimmen? Egal, wie alt oder wie mächtig er war, für Ayla machte das keinen Unterschied. Auf einmal fühlte sie sich gefangen, viel gefangener, als in den letzten Tagen durch den von ihrem Bruder auferlegten Hausarrest. Sie hatte immer geglaubt, frei zu sein. Schließlich konnte sie den ganzen Tag über tun und lassen, was sie wollte. Niemand zwang sie zur Schule zu gehen und da ihre vier Brüder im Dienste des Königs standen, musste sie auch keiner Arbeit nachgehen. Außer ein paar der üblichen Regeln und Bräuche hatte sie nichts zu befolgen. Doch dies alles wirkte auf einmal wie eine Scheinfreiheit auf sie. Was, wenn sie plötzlich nicht mehr mit den Regeln oder Bräuchen einverstanden wäre? Könnte sie das irgendwie zur Sprache bringen oder würde man ihren Einwand sogleich im Keim ersticken? Wäre sie in Schwierigkeiten, wenn sie das System infrage stellte? Ayla war sich ziemlich sicher. Sie hatte nie große Stücke auf König Achytos gehalten, aber da ihre Brüder ihm treu ergeben waren, versuchte sie sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen und einfach ihr Leben zu leben. Doch was sie gerade gelesen hatte, warf ein neues Licht auf das Ganze. Waren vielleicht gar nicht die Vulpari die Bösen, wie ihr von Anfang an eingetrichtert worden war? Waren es in Wahrheit womöglich die Satari, ihr eigener Clan, der auf der falschen Seite der Grenze lebte?
Ayla hatte den ganzen Tag mit der Lektüre des Buches verbracht und als sie aus dem Fenster schaute, war es draußen tiefschwarze Nacht. Zeit, schlafen zu gehen.
D ie nächsten Tage verbrachte Ayla damit, die anderen drei Werke zu lesen, welche sie aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Es fiel ihr immer schwerer, die Burg nicht mehr zu verlassen und sie hoffte, dass das Lesen sie auf andere Gedanken bringen würde. Aber als sie nach vier Tagen alle Bücher durchgelesen hatte, war ihr Drang, in den Wald zu gehen, nur noch größer geworden. Sie beschloss, Mylan beim Frühstück darum zu bitten, wieder auf die Jagd gehen zu dürfen. Eine Stunde nach der Morgendämmerung ging sie die Treppen von ihrem Zimmer zum Speisesaal hinab. Auf dem Weg überlegte sie sich die ganze Zeit, wie sie ihren Bruder am besten auf das Thema ansprechen sollte, hatte aber keine zündende Idee. Hoffentlich würde sich im Verlaufe des Gespräches eine gute Gelegenheit ergeben. Ayla sah Mylan schon von Weitem. Er tat sich an einem Fuchs gütlich und las nebenbei in einem Buch. Mit ihrem schönsten Lächeln setzte sich Ayla zu ihm an den Tisch.
„Wunderschönen guten Morgen, Lieblingsbruder“, säuselte sie. Hoffentlich übertrieb sie es nicht. Mylan sah für einen Moment argwöhnisch von seinem Buch auf, murrte ein „Hallo auch“ und widmete sich dann wieder seiner Lektüre.
So schnell würde Ayla nicht aufgeben. Mit möglichst interessierter Stimme fragte sie: „Was liest du da Schönes?“
Ohne den Kopf zu heben und sie anzusehen , sagte er kurz angebunden: „Anna Karenina.“
Mit nun echtem Erstaunen fragte Ayla: „Seit wann liest du Liebesromane? Ich dachte, du hättest mal gesagt, Bücher seien dazu da, Wissen zu vermitteln, und nicht , um sich die Zeit mit schnulzigen Geschichten zu vertreiben.“
Nun hatte sie Mylans Aufmerksamkeit. Er ließ das Buch mit einem lauten Knall zuklappen und packte es in seine Tasche. Dann griff er nach einem weiteren Fuchs und sagte: „Man kann seine Meinung schließlich auch mal ändern. Außerdem lese ich das Buch nicht aus freien Stücken, sondern weil Kyra mich so lange bearbeitet hat, bis ich zugestimmt habe, es zu lesen. Sie meinte, es sei eine Schande, dass ich als Bibliothekar keine Ahnung von Weltliteratur habe. Und dann sagte sie, sie würde ihr Abendessen so lange nicht anrühren, bis ich ihr versprochen habe, wenigstens dieses Buch zu lesen.“ Er sah ein wenig gekränkt aus.
Ayla lachte sich ins Fäustchen. War ihr Plan also aufgegangen und die beiden hatten zusammen gegessen. Jetzt wollte sie Genaueres erfahren.
„Also hast du sie zum Essen eingeladen ja? Wie war es, abgesehen von ihrem Erpressungsversuch?“
„Was meinst du, wie war es? Wir haben zusammen gegessen und uns über Bücher unterhalten, so wie wir es immer machen.“
Ayla gab sich mit dieser Antwort noch nicht zufrieden: „Und magst du sie?“ Mylan sah sie genervt an. „Klar mag ich sie, sonst
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