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Unsterbliche Lust

Unsterbliche Lust

Titel: Unsterbliche Lust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Thornton
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voraussehbar gestrickt, dass Sasha sie am liebsten vergessen hätte. Aber die Erinnerung an die Stimme der Frau gestern Abend war noch sehr lebendig, und Sasha fühlte sich ihr nahe. Die Wirkung des Porträts auf sie war auch zu gewaltig, um erfolgreich ignoriert zu werden. Statt die ganze Geschichte als lächerlich abzutun, fragte Sasha: «Es ist also Amelia Asher, die in Zimmer 323 spukt? Und nur Frauen können sie hören?»
    Claire nickte. «Ich selbst habe sie aber noch nie gehört», sagte sie traurig, «doch ich bin oft da, wenn das Zimmer frei ist, und dann rufe ich sie.» Sie hob bedauernd die Schultern. «Sie hört mich wohl nicht.» Wehmütig sah sie Sasha an. «Aber Sie gehören zu den Glücklichen. Zu Ihnen ist sie gekommen.»
    Sasha erinnerte sich an ihre eigene Eifersucht, als der Barkeeper ihr erzählt hatte, dass schon andere Frauen Amelias Stimme gehört hatten.
    Plötzlich stieß Claire einen Schrei aus und drückte eine Hand gegen den Mund. Sie sprang auf.
    «Ich muss gehen», sagte sie hastig und schob Sasha nervös zur Tür. «Ich bin schon viel zu lange in der Pause.Tut mir leid, dass ich nicht dazu gekommen bin, Ihnen den versprochenen Tee anzubieten.»
    Impulsiv umarmte Sasha sie. «Vielen Dank, dass Sie mir Amelias Geschichte erzählt haben», sagte sie. «Ich hoffe, dass sie eines Tages auch zu Ihnen kommt.»
    Claire ging zuerst an die Tür, schaute den Flur hinauf und hinunter und winkte dann Sasha aus dem Zimmer. Sasha stand ein paar Momente wie benommen da, während Claire längst verschwunden war, und schließlich wandte sich Sasha zum Aufzug. Es musste bald die Zeit sein, um Valerie und die anderen zu treffen, aber sie wollte noch einen letzten Blick in die Aufzugkabine werfen.
    Sasha drückte den Knopf und war darauf eingestellt, ein paar Minuten zu warten, bis die Kabine ratternd anhielt, aber zu ihrer Überraschung öffneten sich die Türen sofort, als ob sie nur auf sie gewartet hätten.
    Sasha betrat zögernd die Kabine. Die Türen schlossen sich, und langsam setzte sich die Kabine in Bewegung.
    Sie fuhr mit einem Finger über die Buchrücken in den Regalen, ertastete die Ledereinbände und schloss die Augen. Sie atmete den muffigen Geruch ein und öffnete die Augen erst wieder, als ihr Finger über den Rücken von Ann Radcliffes
Die Geheimnisse von Udolpho
strichen, das letzte Buch auf dem untersten Regal. Es war eine Originalausgabe des Romans, der 1794 erschienen war.
    Sasha versuchte, das Buch aus dem Regal zu nehmen, aber auch diesmal war sie erfolglos. Dabei wurde ihr bewusst, dass es wahrscheinlich seit zwei Jahrhunderten unangetastet im Regal stand – sicher nicht in diesem Aufzug, denn trotz seines Knarrens konnte er noch nicht ganz so alt sein.
    Die meisten Leute würden sich sowieso von der Dicke des Romans abschrecken lassen, dachte Sasha. Während sie immer noch versuchte, das Buch aus der Verankerung zu lösen, hörte sie Geräusche, die ihr Herz laut pochen ließen – es waren die knarrenden Geräusche, als die Kabine ihr Ziel erreicht hatte, jedenfalls hielt der Aufzug.
    Verwirrt, aber nicht verängstigt schaute sie auf die Leiste der Zahlen, die das Stockwerk angaben. Aber keine Ziffer war beleuchtet.
    Aus irgendeinem Grund musste die Kabine zwischen zwei Stockwerken angehalten haben. Sasha drückte den Knopf, der die Türen öffnen sollte, aber nichts geschah. Sie schien gefangen in Zeit und Raum.
    Das war alles lächerlich, dachte sie, verärgert über sich selbst, und wandte sich wieder den Büchern zu, während ihr Zeigefinger sich auf den Alarmknopf zu bewegte. Aber kurz bevor der Finger den Knopf erreicht hatte, durchbrach ein trockenes, unheimliches Geräusch die Stille.
    Sasha stand wie erstarrt da und weigerte sich zu glauben, was sie hörte. Da war es wieder – ein anhaltendes klirrendes Geräusch. Es dauerte fast eine Minute, schätzte Sasha, dann war es weg – so abrupt, wie es gekommen war.
    Langsam, beinahe ängstlich, wandte sich Sasha wieder den Regalen zu. Abermals betrachtete sie die Ausgabe von Ann Radcliffe, und diesmal bemerkte sie, dass ein dünnes Papier zwischen Buch und Regal klemmte.
    Die Kabine setzte sich ratternd in Bewegung. Sasha streckte eine Hand aus und zog behutsam an dem Papier. Knisternd gab es nach, und dann hielt sie es in der Hand.
    Es war nicht nur ein Papier, sondern ein Manuskript. Es war in ein rotes Bändchen gebunden, und auf der ersten Seite stand deutlich das Datum: 8.   April 1795.

Drittes Kapitel
    Sasha saß

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