Unsterbliche Lust
so verschieden von denen, die Sasha bisher in ihrem Lebengesehen hatte, dass es ihr zunächst Mühe bereitete, den Text zu entziffern.
Es gab überraschend wenige Kleckse, stellte Sasha fest, als sie die Seiten nacheinander betrachtete, aber sie bemerkte auch, dass die Schrift auf den letzten Seiten ein wirres Bild zeigte, und sie befürchtete, dass sie viele Wörter nicht würde lesen können. Die beiden letzten Seiten waren nicht mehr vollständig erhalten, es sah so aus, als hätte jemand etwas abgerissen.
Sie tadelte sich, dass sie bis zum Ende geblättert hatte, was sie bei einem Roman nie getan hätte, und kehrte zur ersten Seite zurück. Sie griff zur Lampe und richtete den Strahl auf das Manuskript, goss sich aus der Kanne noch eine Tasse Tee ein und begann zu lesen.
17. Juni 1794
Kann es sein? Ist das Liebe? In meinem Kopf ist alles durcheinander. Mein Herz schlägt wie wild, ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Und doch muss ich darüber schreiben. Ich muss alles festhalten, solange ich es deutlich vor mir sehe – ihn ganz besonders.
Was für ein Mann er ist! Diese dunklen Augen so sanft und zärtlich, die Haut so braun und gesund, diese schwarzen Locken und – darf ich es erwähnen? – dieser herrlich geschwungene Mund! Er ist so ein feiner Mann geworden, das sieht man auch an seinem schlichten Hemd und den derben Breeches. Oh, was für kräftige Beine er hat, so lang und muskulös! Kann dies der Johnny sein, mit dem ich als Kind gespielt habe?
Sicher, fünf lange Jahre war ich weg, kam nur zu Weihnachten und im Sommer für zwei Wochen aufs Gut. Wieso
ist er mir nicht bei diesen Besuchen aufgefallen? Ist er nicht genauso alt wie ich? Beide sind wir siebzehn.
Was für ein Kontrast er ist zu meinem sich stets anbiedernden, öligen Cousin Gareth, von dem ich weiß, dass er nur deshalb bei uns weilt, weil er meinen Vater zu einem Heiratsvertrag überreden will. Dieser Speichellecker! Er will mich nur heiraten, weil er dann das Gut bekommt, das ich erben werde, wenn mein Vater stirbt.
Sie wollen alle, dass ich ihn heirate, weil ich dann meinen Titel als Lady Asher behalte, aber ich weigere mich, jemandem Gemahlin zu sein, den ich verabscheue und der mich nur des Anwesens wegen haben will. Ich weiß, wie hoch Gareths Hoffnungen sind, Titel und Gut zu bekommen, und beides stünde ihm zu, weil Vater keinen männlichen Erben hat – arme Mama! Sie starb, weil sie Vater den langersehnten Sohn schenken wollte.
Aber ich schweife ab.
Es ist John, bei dem meine Gedanken sind. Ich werde nie den kurzen Moment vergessen, als sich bei meiner Rückkehr unsere Blicke trafen. Ich sah eine solche Wärme in seinen schönen dunklen Augen, die mein Herz rührte. Er stand da, zusammen mit den anderen Dienstboten, die gerufen worden waren, um zu meiner Begrüßung anzutreten.
«Gut, dass Ihr wieder da seid, Lady», war alles, was er sagte, aber das Feuer in seinen Augen und der Schmelz in seiner Stimme lösten Tumulte in meinem Busen aus. Seit diesem Tag – und der war vor einer Woche – lauere ich auf eine weitere Begegnung mit unserem gutaussehenden Gärtner, aber unser Treffen darf nicht auffällig sein, sonst könnte mein Vater davon erfahren.
Oh, er ist ja so hart und grausam geworden seit dem Hinscheiden meiner Mutter. Am härtesten ist er zu mir, seinem
einzigen Kind! Er hat alle seine Ehrenämter aufgegeben, abgesehen von seiner Arbeit als hiesiger Magistrat, und diese Aufgabe versieht er zur Hauptsache in öffentlichen Häusern, wo er sich mit den Rechtskundigen trifft und tagelang räsoniert. Für mich hat er nie Zeit, er lässt mich mit dem schrecklichen Gareth allein. Von den Dienstboten traut sich niemand, mich anzusprechen, schließlich bin ich Lady Amelia. Nein, ich habe keine Freunde hier, ich vergehe in Einsamkeit.
Jedenfalls war es bisher so. Nun kann ich von meinem John träumen. Allein der Gedanke an ihn schürt ein Feuer in meinem Blut und in meinem Körper, besonders an jener geheimen Stelle, in der es auch jetzt wieder so unerklärlich pocht.
Ist das Liebe?
Ich muss ihn sehen, ich muss! Wo kann ich ihn treffen? Vielleicht kann mir die süße Rosie helfen, das Küchenmädchen, mit dem ich früher oft zusammen gespielt habe. Kann ich ihr vertrauen? Vielleicht hat sie ein Auge auf John geworfen … Aber ich habe sonst niemanden, den ich bitten könnte, und sie ist immer lieb zu mir gewesen.
Ja, Rosie wird mir helfen, einen Weg zu Johnny zu finden, denn ich muss ihn einfach
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