Unsterbliche Lust
bisschen nervös und Claire wohl auch, denn sie schaute einige Male hinter sich, als wollte sie sich vergewissern, dass ihnen niemand folgte.
Bald schon wusste Sasha nicht mehr, in welchem Teil des Hotels sie sich befanden. Sie hatte nicht vermutet, dass das Gebäude so groß war. An einer Stelle hatte Sasha den Vorraum zur Wäscherei vermutet, weil überall Bettzeug und Tücher lagen, und ein wenig später verriet der Geruch, dass sie in der Nähe der Abfallsammlung waren. Durch eine weitere Tür gerieten sie in einen offenbar älteren Gebäudeteil, denn es roch modrig und unbewohnt.
Als ob die junge Frau Sashas Gedanken erraten hätte, blieb sie stehen und lächelte sie verschwörerisch an.
«Gäste sollten diesen Teil des Hotels eigentlich nicht sehen», erklärte sie. «Wir sind gerade am Büro des Managers vorbeigekommen, und dahinter liegen die Unterkünfte einiger Angestellten. Jetzt betreten wir den hinteren Teil des Hauses, wo früher die Dienstboten wohnten. Dieser Trakt ist geschlossen, seit wir uns erinnern können.»
Sasha starrte die junge Frau neugierig an. Wieso war es ihr gelungen, in diesen Trakt einzudringen, wenn er geschlossen war? Claire lächelte und gab Sasha zu verstehen, ihr zu folgen. Es ging eine breite, verstaubte Treppe hoch, die sicher seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden war. Die dunklen, holzgetäfelten Wände waren klebrig vom Staub der Jahre, aber sie schirmten fast jedes Außengeräusch ab.
Im Treppenhaus war es ziemlich schummrig. Vor den Fenstern hingen schwere Samtvorhänge, deren Farbe vor Staub kaum noch zu erkennen war. Die Beleuchtungwurde immer trüber. Es roch modrig, und von der Decke hingen lange Spinngewebe.
Als Sasha gerade dachte, sie hätte genug Altertum geatmet, weil die Treppe einfach nicht enden wollte, blieb Claire plötzlich stehen. Sasha schaute sich um. Sie standen auf einem Treppenabsatz, aber sie sah auch, dass die Treppe weiter aufwärtsführte. Ratlos schaute sie Claire an.
Claire blieb reglos stehen. Sie lehnte sich ans Treppengeländer und schaute mit großen Augen auf eine Wand, an der ein Porträt hing, das wie ein Wunder völlig staubfrei zu sein schien.
«Das ist sie», sagte Claire leise, fast andächtig. «Das ist Amelia.»
Sasha betrachtete das Porträt und versuchte, es in ihr Gedächtnis einzubrennen. Der Hintergrund des Gemäldes war in unterschiedlichen, hauptsächlich dunklen Grau- und Grüntönen gehalten, als hätte der Maler das Licht ausschließlich auf sein Modell lenken wollen.
Es war das Porträt einer jungen Frau, höchstens achtzehn Jahre alt, schätzte Sasha. Sie trug ein herrliches Kleid, gewaltig in Stoff und Farbe. Der Maler hatte es in allen Einzelheiten festgehalten; hatte liebevoll jede Falte, jede Krause wiedergegeben. Sasha blickte auf die Spitze der Halskrause, sie bewunderte das schwere Samtgewebe, den feinen Halsausschnitt, um den der Stoff gerafft war und wo das zarte Pink in ein tiefes Rot überging, ebenso wie in der Taille, wo der Stoff in kunstvoll arrangierten Falten lag.
Die Frau auf dem Bild trug keinen Schmuck, abgesehen von den Rubinen im Haarband, das sich durch die goldenen Locken zog, die sich auf ihrem Kopf türmten.
Aber es war das Gesicht des Modells, das Sashas Blick gefangen nahm. Sie verinnerlichte jede Einzelheit, die delikaten rosigen Ohren, den Pfirsichteint, die lange aristokratische Nase, den vollen Mund, der an eine Rosenknospe erinnerte, und die großen grünen Augen, vollkommen mit den langen Wimpern und den gewölbten Brauen.
Vom ersten Anblick an war Sasha von dieser Frau fasziniert, nicht nur von ihrer Schönheit, sondern auch von dem Schock, dass sie eine gewisse Vertrautheit mit ihr empfand. Es war ein beinahe erotisches Gefühl. Bei dieser ersten Begegnung, beim ersten Anblick, wurde Lady Amelia für Sasha eine Frau aus Fleisch und Blut. Sasha starrte unverwandt auf das Bild, und es war ihr, als ob Amelia einen tiefen Atemzug täte. Ihre Lippen schienen sich zu bewegen, und ihre Augen wurden feucht.
Das ist doch verrückt, sagte sich Sasha, riss sich aus der Träumerei und stellte fest, dass es ihre eigenen Augen waren, die feucht waren, ihre eigenen Lippen, die sich zitternd bewegten. Himmel, es war nur ein Gemälde! Sie wollte aus diesem Bann heraus. Sie schaute Claire von der Seite an und bemerkte, dass Claire sie anschaute und nicht das Bild.
«Sie ist lieblich, nicht wahr?» Claires Stimme war nur ein Wispern. «Man hat den Eindruck, dass sie lebt. Deshalb wurde
Weitere Kostenlose Bücher