Unsterbliche Lust
ausgebreitet. Es strahlte auch etwas Unheimliches aus, als ob eine gespenstisch-dünne Frau in dem Kleid steckte.
Sasha starrte eine Weile auf das Kleid, dann fasste sie mit einer Hand in ihre Haare. Die Locken, die Claire so geschickt mit Lack besprüht hatte, waren im Schlaf der üblichen wirren Morgenmähne gewichen. Sasha erinnerte sich dunkel, dass sie die Haarnadeln herausgezogen hatte, ehe sie sich zum Schlafen hingelegt hatte, denn sie hätte unmöglich mit der kunstfertig aufgebauten Lockenpracht und den dazugehörenden Nadeln ins Bett gehen können.
Nackt schwang sich Sasha aus dem Bett und strich einmal liebevoll über das Kostüm, ehe sie sich nach den anderen Kleidungsstücken bückte, die sie achtlos auf den Boden geworfen hatte: die silbernen Schuhe,die Seidenstrümpfe, den Strumpfhalter, das Korsett, die weißen langen Handschuhe und die schwarze Maske.
Sie sammelte alles auf, dann presste sie ihr Gesicht gegen die Kleider. Sie konnte noch ihr Parfüm und den Rauch riechen, und ein wenig hingen auch der Geruch aus dem Verlies der Lüste und der Moder aus dem Treppenaufgang in den verschiedenen Geweben. Sie sog tief ein und nahm den Geruch des gutaussehenden Fremden wahr, ebenso wie ihren eigenen honigsüßen Moschus.
Sasha schmiegte ihr Gesicht noch tiefer in den schweren Samt des Kostüms, das sie in den Armen hielt, und mit geschlossenen Augen versuchte sie, sich an den chronologischen Ablauf des Abends zu erinnern – bis zu der eigenartigen Paarung auf der Treppe.
Sie konnte immer noch nicht glauben, dass die Feuchtigkeit auf ihrer Haut von den Tränen herrührte, die über das gemalte Gesicht der Amelia Asher gelaufen waren, aber sie erinnerte sich noch gut an ihren letzten schockierten Blick auf das weinende Porträt.
Sie erinnerte sich auch noch daran, dass sie darauf bestanden hatte, sofort auf ihr Zimmer zu gehen, denn sie hatte Angst, der fremde Mann auf der Treppe neben ihr könnte das traurige Gesicht an der Wand wahrnehmen – als ob es irgendwie ein Einbruch in die Privatsphäre von Amelia Asher gewesen wäre, wenn er das Geheimnis der weinenden Frau hätte bezeugen können.
Sasha wusste noch, dass ihr namenloser Geliebter sie zum Aufzug begleitet hatte. Der Fremde kannte sich auch in diesem Teil des Gebäudes aus, er fand den Aufzug mit schlafwandlerischer Sicherheit. Er trug galant Sashas Kostüm, Maske und Handschuhe durch dasLabyrinth der dunklen Gänge, und sie lief hinter oder neben ihm, nur mit Schuhen und Wäsche bekleidet.
Als sie schließlich den Hoteltrakt wieder betraten, stand die Aufzugskabine in der Hotelhalle, die Türen geöffnet, als hätte sie geduldig auf Sashas Rückkehr gewartet. Der Fremde drückte seine Lippen auf Sashas Handrücken, lächelte sie an, führte sie in die Kabine und blieb draußen stehen. Er sah zu, wie sich die Türen schlossen. Sasha wurde nach oben gefahren, obwohl sie auf keinen Knopf gedrückt hatte, und im dritten Stock hielt der Aufzug an.
Widerstrebend legte Sasha das kostbare Bündel der Kleider wieder auf den Sessel, und während sie unter der Dusche stand, fragte sie sich, ob sie die feinen Sachen behalten könnte oder ob jemand – Claire vielleicht? – sie abholen würde.
Für den Augenblick wurde diese Frage durch den Hunger verdrängt, der sich dringlich meldete. Immer noch hatte sie seit dem Frühstück im Flugzeug am gestrigen Morgen kaum etwas gegessen. Es dauerte ihr zu lange, auf den Zimmer-Service zu warten, deshalb beschloss sie, den Frühstücksraum aufzusuchen. Sie warf sich bequeme Klamotten über, Jeans und Pullover, und lief die breite Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Als Sasha an ihrem Tisch in einer Ecke des hübsch eingerichteten Restaurants saß, vollauf gesättigt von dem üppigen englischen Frühstück – komplett mit
porridge
und geräuchertem Hering –, nippte sie an der dritten Tasse des ausgezeichneten Kaffees und betrachtete unauffällig die anderen Gäste. Die meisten saßen hinter ihren Zeitungen, andere unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.
Sie entdeckte niemanden, den sie gestern Abend aufdem Ball gesehen hatte. Da war keiner, der ihr vertraut vorkam. Selbst Claire war nirgendwo zu sehen. Sasha hob die Schultern, schob den Teller von sich und nahm sich vor, auch auf dem Weg zurück aufs Zimmer wieder die Treppe zu nehmen, wenn auch deutlich langsamer, weil die Last des Frühstücks in ihrem Magen schwer zu tragen war.
Es war erst, als sie den Fuß auf die erste Treppenstufe gesetzt
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