Unsterblichen 02 -Unsterblich wie ein Kuss-neu-ok-27.01.12
es
schwer zu akzeptieren, dass sie getäuscht worden war. Dass sie benutzt worden
war. Ihm fiel es genauso schwer.
»Meine
Schwester hat recht«, meldete sich nun auch Mikhail zu Wort. »Wir haben es
wieder und wieder durchgesprochen, alles, was wir über Violet wissen. Und das
Ganze passt einfach nicht zusammen. Nur ein Beispiel: Wer hätte je von einer
blinden Jägerin gehört?«
Daran
hatte Patrick selbst schon gedacht. »Violet ist keine gewöhnliche Blinde. Sie
bewegt sich wie eine Sehende.« Aber noch während er dies sagte, keimten Zweifel
in ihm auf.
Irgendwie
passte das wirklich nicht zusammen.
»Na
gut, lassen wir ihre Blindheit mal außer Acht«, fuhr Mikhail fort, »was ist mit
der Tatsache, dass sie in einem Zirkus auftrat? Ein Jäger will doch sicher
nicht auffallen, oder?«
Patrick
bezweifelte, dass Jäger ein bestimmtes Profil hatten, doch auch dieses Argument
ließ sich nicht so ohne Weiteres von der Hand weisen.
»Was
mir nicht in den Kopf gehen will, ist«, sagte Ismail, »dass sie ausgerechnet auf
dem Ball versucht hat, mich umzubringen. Sie musste doch damit rechnen,
erwischt zu werden. Warum hat sie auf keine bessere Gelegenheit gewartet?«
»Irgendwas
stimmt da nicht«, sagte Angelica überzeugt. »Ihr müsst mich mitnehmen und mit
ihr reden lassen, Patrick. Vielleicht redet sie ja mit mir. Und falls nicht:
Ich kann weiter in ihren Geist vordringen als jeder andere. Ohne Schaden
anzurichten.«
Patrick
war hin- und hergerissen. Er wollte nur zu gerne glauben, dass etwas nicht
stimmte, dass die Frau, die er liebte, nicht versucht hatte, ihn umzubringen.
Er wollte mehr als jeder andere hier glauben, dass sie unschuldig war. Er
wollte seine Verzweiflung, seinen Schmerz herausschreien.
Aber
er war Clanführer. Er hatte Pflichten, die nichts mit seinen persönlichen
Wünschen und Gefühlen zu tun hatten.
Es
wäre töricht, die Auserwählte auch nur der geringsten Gefahr auszusetzen. Das
durfte er nicht zulassen. Aber Angelica hatte recht: Sie konnte helfen, und
Violet waren derzeit buchstäblich die Hände gebunden.
»Also
gut, bringen wir's hinter uns.«
Der
Gestank ihres Erbrochenen hing noch in der Luft, obwohl die Wachen die Hütte
gestern zweimal gereinigt hatten. Wenigstens war ihr jetzt nicht mehr übel.
Nachdem sie stundenlang auf dem Boden gehockt und sich vor und zurück gewiegt
und die Haare gerauft hatte, war eine Art innerer Frieden über sie gekommen.
Sie betrachtete ihr Leben jetzt von außen, mehr wie ein Zuschauer als eine
Beteiligte.
Zunächst
war sie auf die Welt gekommen. Sie hatte nichts gewusst. Die ganze Zeit hatte
sie mit ihrer Puppe geredet und sich die Gemälde angeschaut, die die Gänge der
Burg zierten, die sie ihr Zuhause nannte. Sie hatte sich Geschichten
ausgedacht. Sieben Jahre lang hatte sie in einer Märchenwelt gelebt. Und obwohl
sie keinen Vater hatte und eine Mutter, die, wenn sie sich einmal blicken ließ,
gemein und hässlich zu ihr war, war sie nicht unglücklich gewesen.
Sie
hatte es nicht anders gekannt.
Dann
kam der Tag, an dem sie blind wurde, und die Woche, in der sie sich zitternd in
einer Ecke verkroch. Und dann war sie um ihr Leben gerannt, in den Wald.
Zwei
Tage hatte sie unter einem Baum im Wald gelegen und hatte schon aufgeben
wollen, hatte sich beinahe den Tod gewünscht. Und sie wäre dort liegen
geblieben, wenn ihr Hass sie nicht weitergetrieben hätte, ihr Hass auf Ismail.
Sie war weitergestolpert, war auf die Taverne gestoßen und hatte dort Aufnahme
gefunden. Und auch hier war ihr Hass auf den Mörder ihres Vaters der Grund für
ihren starken Überlebenswillen gewesen. Der Gedanke an Rache hatte ihr
geholfen, zwei Jahre später den Mut zu finden, von diesem schrecklichen Ort zu
fliehen.
Sie
war auf die Zigeuner gestoßen. Sie hatten ihre Wohnwagen angehalten, hatten sie
bei der Hand genommen und neben Boris gesetzt, der damals noch ein Kind war,
wie sie. Keiner hatte Fragen gestellt, und sie hätte auch keine beantwortet.
Aber sie hatte nie das Messer aus der Hand gegeben, das sie aus der Küche der
Taverne gestohlen hatte.
Sie
hatte nie aufgegeben, ihr ganzes Leben lang nicht, getrieben vom Hass auf den
Mörder ihres Vaters. Dann hatte dieser Hass dazu geführt, dass sie vor vier
Tagen beinahe den Mann, den sie liebte, ermordet hätte.
Und
jetzt stellte sich heraus, dass alles, woran sie geglaubt hatte, eine Lüge
gewesen war.
Nachdem
sie die unvergossenen Tränen von zwanzig Jahren geweint hatte, fand sie
Frieden. Denn sie
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