Unsterbliches Verlangen
Die Kirche hatte eine gigantische Rolle in seinem Leben gespielt - spielte sie noch , und sie hatte ihm eingeredet, er wäre ein Monstrum.
Vielleicht gab es Monstren auf dieser Welt, doch Pru würde niemals glauben, dass Chapel zu ihnen zählte.
Sie lüpfte die Röcke ihres blassgrünen Morgenkleides, um nicht zu fallen, und eilte die Treppe hinauf. Sie musste zu Chapel, musste sein Gesicht sehen, seine Berührung spüren. Und sie musste einen Weg finden, ihm zu beweisen, dass er besser war, als er dachte, bevor sie starb. Plötzlich war ihr der Gedanke, sie könnte sterben, solange er sich für böse hielt, unerträglich.
Im Korridor oben war alles still und halbdunkel. Chapel war der Einzige, der in diesem Flügel wohnte, deshalb wurde er auch tagsüber extradunkel gehalten - sicherheitshalber. Falls die Bediensteten ihren Gast seltsam fanden, sagten sie nichts. Vielleicht aber waren sie auch bereit, wie ihr Vater über einiges hinwegzusehen, nachdem Chapel sie alle quasi im Alleingang vor dem sicheren Tod bewahrt hatte.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und zuckte zusammen, als sie leise knarrte. Sie musste unbedingt einen der Bediensteten anweisen, die Angeln zu ölen. Diese Tür durfte auf keinen Fall knarren, wenn einer von ihnen des Nachts herumschlich.
Das Zimmer war dunkel, sehr dunkel. Pru schlüpfte rasch hinein, damit niemand sie sah. Als sie die Gestalt auf dem Bett erkannte, glaubte sie schon, ihre Vorsicht wäre unbegründet gewesen. Er war ganz und gar unter den Decken vergraben und mit dem Rücken zum Fenster in sich zusammengerollt, so dass sein Gesicht auf die Tür gerichtet war.
Wie ein Kaninchen in seinem Bau, dachte sie und musste unweigerlich lächeln. Ein furchteinflößend großes, gutaussehendes, mutiges Kaninchen.
Auf Zehenspitzen tapste sie über den Teppich. Warum sie sich extraleise verhielt, wo sie doch hergekommen war, um ihn zu wecken, wusste sie selbst nicht.
Kaum berührte sie ihn, fuhr er hoch, knurrend, wild und tödlich.
»Chapel!« Sie sprang zurück. Ihr Herz hämmerte vor Schreck, als sie hart auf den Rücken fiel. Wie konnte sie so dumm sein? Sie wusste doch, dass sie ihn nicht wecken durfte. Pater Molyneux hatte sie alle gewarnt und ihnen gesagt, sie dürften ihn auf keinen Fall wecken, wenn er schlief.
Was brachte sie auf die Idee, dass sie eine Ausnahme bilden könnte?
Aber er hatte sie nicht getötet. Nein, er wirkte sogar schon deutlich ruhiger. Mit zerzaustem Haar saß er auf dem Bett, nackt und wundervoll anzuschauen, und er sah sie an, als wäre sie von Sinnen, was sie natürlich auch war.
Er fuhr sich mit einer Hand durch das zerwühlte Haar. »Pru, ist alles in Ordnung?«
War es das? Ihre Brust fühlte sich an, als versuchte ihr Herz gerade, sich durch die Rippen zu sprengen, aber ansonsten war alles bestens. »Ja.«
Sie hätte Nein sagen sollen. Vielleicht würde er sie dann nicht so fragend ansehen. Zumindest glaubte sie, er sähe sie fragend an. Gut genug, um es zu wissen, konnte sie ihn dann doch nicht sehen. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«
So schnell, wie es ihre zitternden Extremitäten erlaubten, richtete Pru ihre Röcke und stand auf. »Offensichtlich gar nichts.«
»Ich hätte dich töten können!«
»Aber du hast nicht.«
Ihre Feststellung beruhigte ihn offenbar nicht. »Nein, weil ich dich erkannte - irgendwie. Gott sei Dank!«
Wieder drohte sie in Tränen auszubrechen. Grundgütiger, der Mann verwandelte sie in eine Gießkanne! »Ich wollte bloß bei dir sein.«
Er breitete die Arme aus - seine nackten muskulösen Arme. »Komm her!«
Bereitwillig und mit Freuden warf sie sich in seine Umarmung. Er hielt die Decken hoch, damit sie darunterkriechen konnte, was sie ohne zu zögern tat. Sie schmiegte sich an seinen wunderbaren nackten Körper.
Während er ihren Rücken streichelte, fragte er: »Ist etwas passiert?«
»Nein.« Ihre Stimme klang gedämpft, weil ihr Gesicht direkt an seiner Brust ruhte. Er war so herrlich warm, und seine Brusthaare kitzelten ihre Wange. Hier wollte sie für immer bleiben, nur um seine tröstliche Wärme zu spüren.
»Du hast tatsächlich riskiert, verletzt zu werden, bloß um bei mir zu sein?«
Sie schlang beide Arme fest um ihn. Wieso wirkte er so überrascht, so schockiert geradezu? Warum war das für ihn solch eine Überraschung?
»Ja.« Sie würde ihn später davor warnen, was ihr Vater vorhatte. Im Moment wollte sie ihn vor allem bei sich fühlen. Sie musste bei ihm sein - wo sie sich
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