Unsterbliches Verlangen
Verbindung zu mir Sie in Gefahr brachte.«
Er mochte nicht vollkommen ehrlich sein, aber direkt war er allemal. »Ihnen tut nicht leid, gelogen zu haben?«
»Nein. Anfangs log ich, weil ich es vorteilhafter fand, als offen zuzugeben, dass ich nach mythischen Kreaturen suche. Dann log ich bloß noch, um Sie und Ihre Familie zu schützen. Ich hatte keine Ahnung, dass es so kommen würde.«
»Und sich selbst.« Es fiel ihr schwer, nicht bissig zu klingen. »Sie logen, um sich selbst zu schützen.«
Kein Wimpernzucken. »Selbstverständlich. Haben Sie mich zuerst nicht auch belogen, was den Grund betraf, weshalb Sie den Gral finden wollten?«
Sie wurde rot. »Das war etwas anderes.«
Marcus verschränkte die rauhen Hände vor dem Bauch. »Wenn Sie sich so besser fühlen, meinetwegen.«
Was sagte es über sie aus, dass sie ihn irgendwie attraktiver fand, nun, da er diese Seite seines Wesens zeigte? Gelehrter, der er war, verbarg sich unter seinem Wissensdurst der Marcus, der ein wenig Gefahr schätzte. Dieser Wesenszug von ihm erinnerte sie an Chapel. Beschützend, verlässlich und dennoch unzähmbar. Eine romantische Vorstellung, aber wahr.
Offensichtlich zogen gefährliche Männer sie an, und gefährlicher als ein Vampir ginge es wohl kaum.
Doch seit Chapel ihr eröffnet hatte, was er war, dachte sie unentwegt daran, wie es sich anfühlen würde, wenn seine Reißzähne sich in ihre Haut gruben und er ihr Blut trank. Oder hatten Mr. Stoker und die ganzen anderen Schriftsteller sich in diesem Punkt auch geirrt? Wie es schien, waren die meisten Vampire in der Literatur blutrünstige Unholde, die leicht zu beeindruckende junge Frauen verführten.
Und sie war fürwahr leicht zu beeindrucken, wenngleich sie bisher nicht verführt worden war.
Hatte Stoker auch fälschlich behauptet, dass Vampire menschliche Wesen in Vampire verwandeln konnten? Und wenn er es könnte, würde Chapel sie verwandeln? Oder, falls er es anbot, würde sie es zulassen? Sie wollte einfach nur ein normales Leben. Unsterblichkeit dagegen war nicht normal.
Es wäre jedoch Unsterblichkeit gemeinsam mit Chapel, und das wiederum war ein Gedanke, der mehr Reiz für sie barg, als sie jemals zugeben wollte.
Wenn sie sich vorstellte, was sie alles tun und sehen könnte, wenn sie ewig leben würde!
Gott, so etwas Furchtbares durfte sie nicht einmal denken! Und doch tat sie es. Sie starb, verdammt, wie sollte sie sich da nicht solche Fragen stellen? Sie war stets egoistisch gewesen, und der Tod änderte ihren Charakter nicht. Genau genommen machte sie ihr nahendes Ableben oft sogar noch viel egozentrischer, als sie ohnehin schon war.
»Also, wollen Sie fragen?«
Jäh aus ihren Gedanken gerissen, wandte sie sich wieder Marcus zu. »Was fragen?«
Er sah sie an, als würde er glauben, sie spielte die Schüchterne. »Über Chapel - deshalb sind Sie doch hier, oder nicht?«
Na schön, vielleicht war er überhaupt nicht so attraktiv, dieser unverschämte Tropf!
Natürlich hatte er recht, und zweifellos bestätigte ihm das die Farbe ihrer Wangen, was umso verdrießlicher war. Sie war selbstverständlich auch hergekommen, um ihm seine Verwicklung in den morgendlichen Überfall vorzuwerfen. Aber selbst wenn Marcus seine Gründe gehabt haben mochte, dem Gral nachzujagen, hatte er sie eigentlich nicht betrogen. Vielmehr hatte er an ihre versponnene Geschichte geglaubt, womit der Fehler zunächst einmal einzig und allein bei ihr lag - oder zumindest die Schuld gleichermaßen auf ihren wie auf seinen Schultern lastete. Wäre sie nicht so verzweifelt gewesen, hätte sie vielleicht nicht bereitwillig erklärt, aus einem bestimmten Kelch trinken zu wollen, der sie hellen könnte.
Was sie wirklich in sein Zimmer brachte, war die Tatsache, dass er mehr über Chapel zu wissen schien als sie, und das störte sie gewaltig.
Sie schluckte ihren bitteren Stolz hinunter. »Erzählen Sie mir etwas über ihn?«
Die Hände immer noch vor dem Bauch verschränkt, spreizte er die Daumen. »Selbstverständlich, aber er wäre gewiss die verlässlichere Quelle.«
Wieder wurde sie rot. »Ich würde es lieber zuerst von Ihnen hören.« Die Wahrheit war, dass sie noch nicht bereit war, Chapel gegenüberzutreten. Sie wollte besser vorbereitet sein, etwas haben, das sie wappnete. Und Wissen verlieh ihr nun einmal stets eine gewisse Kraft. Sie zog es vor, gut unterrichtet zu sein, was ihre Gegner betraf, sei es der Krebs oder der Vampir, der sie verzauberte, wie es keinem
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