Unsterbliches Verlangen
konnte.
»Molyneux hat die Kirche über das benachrichtigt, was hier vorgefallen ist, und ich erwarte Nachricht von meinen eigenen Kontakten, was sie über mögliche Pläne oder Bewegungen des Ordens hören. Die Unterbringung, in der ich sie traf, haben sie verlassen, also werden sie irgendwo anders in England sein oder gar außer Landes. Möglicherweise in Frankreich, vor allem wenn sie Temple bei sich haben, wie Chapel vermutet.«
Frankreich. »Dann werden Chapel und Molyneux bald abreisen.«
Wieder hatte sie das Gefühl, dass Marcus bis in ihre Seele blickte. Wäre es jemand anders, hätte sie sich wohl gewunden. »Das ist möglich, obwohl ich bezweifle, dass sie Ihre Familie ungeschützt zurücklassen, denn der Orden könnte zurückkehren.«
Angst packte ihr Herz wie eine kalte Faust. O Gott, was, wenn das passierte? Was wäre, wenn sie ihrer Famille etwas antaten? Sie sah wieder den Mann vor sich, der seine Waffe auf ihre Schwester gerichtet hatte. Und er hätte ganz sicher den Abzug gedrückt, hätte sie nicht getan, was er verlangte. Diese Männer würden nicht zögern, ihre Familie zu töten, um sich zu schützen.
»Ich werde nicht zulassen, dass Ihnen oder Ihrer Familie etwas zustößt, Pru.«
Sie neigte den Kopf. Marcus stand zu seinem Wort, dessen war sie sich sicher. Seine Stimme war voller Überzeugung und Entschlossenheit. Dennoch stünde er als einer gegen viele.
Nein, es gab nur einen Mann, der sie vor dem Orden beschützen konnte, und der war gar kein Mann, jedenfalls kein normaler. Und nicht zuletzt war er ein Mann, der sich die meiste Zeit seiner Existenz vor dem Leben versteckt hatte, statt um es zu kämpfen.
Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass Chapel ein Krieger war. Und sie zweifelte nicht daran, dass er sie und ihre Familie bis zum letzten Atemzug verteidigen würde.
Aber wenn es richtig ernst wurde, wer würde ihn dann schützen?
Bei Chapel hatte sie mit dem Anschleichen weniger Glück als bei Marcus. Der Vampir tat nicht einmal so, als hätte er sie nicht kommen gehört. Vielmehr fragte Pru sich, ob er ihre Nähe oder ihr Kommen nicht lange vor dem Betreten der Bibliothek wahrgenommen hatte. Sie jedenfalls hatte geahnt, dass sie ihn hier finden würde.
Er stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster. Sie sah ihr Spiegelbild neben seinem in der Scheibe. »Guten Abend, Pru.«
War er das? Sie lebte. Ihre Familie war unverletzt, aber ihr Vater, Marcus und jeder andere Mann im Haus, mit Ausnahme von diesem, der kein Sonnenlicht vertrug, hatten die frühen Morgenstunden damit verbracht, Leichen von Männern herauszuschaffen, die hergekommen waren, um sie alle zu töten. Sie wusste nicht, ob der Abend gut war, wennschon er mit Sicherheit besser war als der Tag, der ihm vorangegangen war.
Andererseits hatte Chapel sich gleich nach Sonnenuntergang aufgemacht, um nach dem Anführer zu suchen. Wie erfolgreich er gewesen war, würde sie ihn später fragen, denn zuerst musste sie einiges von ihrer Verbitterung loswerden.
»Sechshundert Jahre«, begann sie mit unverhohlenem Sarkasmus, »das muss so etwas wie ein Rekord sein.«
Er blickte über die Schulter zu ihr. Seine kantigen Züge wurden von dem gedämpften Licht beschienen. »Ein Rekord worin?«
»Selbstmitleid«, antwortete sie. »Ich bezweifle, dass ich es so lange durchhalten könnte.«
Falls sie der persönlichen Rüstung, in der er sich versteckte, eine Delle verpasst haben sollte, ließ er es sich nicht anmerken. »Sind Sie wütend, weil meine Existenz schon zu lange währt oder weil Ihre zu kurz sein wird?«
Verdammt, dass er aber auch immer genau wissen musste, was sie fühlte und wo er sie traf! »Beides. Sehen Sie es wirklich so, als bloße Existenz?«
Nun drehte er sich vollständig zu ihr um. Sein wunderschönes Gesicht wirkte müde und resigniert. Aber sie würde ihn nicht bemitleiden. Nein, das würde sie nicht! »Wie soll ich es denn Ihrer Meinung nach nennen?«
»Wie wäre es mit >Leben«, fragte sie und konnte nicht umhin, ungläubig zu klingen. »Oder ein Geschenk. Hätte ich die Ewigkeit vor mir, würde ich gewiss das Beste daraus machen.«
Seine Lippen zuckten. »So, wie Sie es mit der Zeit getan haben, die Sie bereits hatten? Nicht die Zeit, die wir haben, zählt, Pru, sondern was wir mit ihr anfangen.«
Seine Worte verletzten sie, doch sie ignorierte den impliziten Tadel. »Was haben Sie mit Ihrer Zeit angefangen? Um eine Frau getrauert, die Sie nicht wollte, und sich hinter einer Kirche versteckt, die Sie
Weitere Kostenlose Bücher