Unsterbliches Verlangen
Sterblichen bislang gelungen war.
Marcus betrachtete sie, und seine blauen Augen sahen weit mehr, als ihr lieb war. »Setzen Sie sich. Ich erzähle Ihnen alles, was ich kann.«
Pru wählte die Fensterbank, und Marcus begann zu reden. Seine Geschichte klang sehr ähnlich dem, was sie von Chapel an jenem Abend nach dem Dinner gehört hatten, nur war diese sehr viel detaillierter. Er erzählte ihr von Chapel und seinen Freunden, die ausgeschickt worden waren, um den Templerschatz zu finden, und wie sie stattdessen den Blutgral entdeckt hatten. Er erzählte ihr von dem Gift, das Chapel dazu getrieben hatte, aus dem Kelch zu trinken, und Pru erschauderte. Als er ihr das Gift aussog, musste dies schreckliche Erinnerungen in ihm wachgerufen haben.
Er erzählte ihr, wie die Männer nach Hause zurückgekehrt waren und erwartet hatten, wie Helden gefeiert zu werden, dann aber erfuhren, dass ihre Familien sie für tot hielten. Und er erzählte ihr von Marie. Wie schwer vorstellbar es war, dass die dumme Frau sich tatsächlich lieber in den Tod gestürzt hatte, als auf ewig mit dem Mann zusammen zu sein, den sie doch angeblich geliebt hatte.
Pru hatte jetzt dieselbe Meinung von dieser Frau wie Tage zuvor, als sie gedacht hatte, sie wäre bloß eine Figur in einer Legende - Marie war ein Trottel gewesen.
Oder aber Marie hatte Chapel nicht so geliebt, wie sie behauptet hatte. Wie dem auch sei, Pru wusste ganz sicher, dass sie sich nicht von einem Balkon stürzen würde, sollte Chapel ihr sagen, er wolle sie für alle Ewigkeit bei sich haben.
Alle Ewigkeit. Das war ein ebenso beängstigender wie erregender Gedanke.
»Als Dreux Beauvrai, mein Vorfahr, Selbstmord beging, wandte sich der Rest der Bruderschaft an die Kirche und bot ihr in der Hoffnung ihre Dienste an, ihre Seelen retten zu können. Einzig Temple und Chapel blieben.«
»Die Bruderschaft?«
Er nickte. »Die Bruderschaft der Schattenritter.«
Pru riss die Augen weit auf, doch Marcus winkte ab. »Es klingt melodramatisch, ich weiß, aber das ist der Name, den man am häufigsten für ihre Gruppe verwendet.«
Die Bruderschaft der Schattenritter, das klang fürwahr dramatisch, gewalttätig noch dazu. Bis heute hatte sie sich nicht einmal vorstellen können, zu welcher Gewalt Chapel fähig war, aber sie hatte mit eigenen Augen bezeugt, mit was für einer Leichtigkeit er tötete. Immerhin hatte er nicht den Eindruck gemacht, es zu genießen, was doch in gewisser Weise für ihn sprach.
Nein, nicht in gewisser Weise. Er hatte getötet, um ihre Familie zu schützen. Und dieses Motiv machte für sie fast alles entschuldbar.
»Was immer Sie von ihm denken mögen, Pru, er ist nicht böse. Die letzten fünfhundert Jahre hat er Gott und den Mächten des Guten gedient. Er kam nicht her, um Sie zu betrügen oder zu belügen, sondern um Sie zu beschützen - um uns alle vor der Gefahr zu schützen, welche die Templer und der Blutgral für uns darstellen könnten.«
Sie starrte ihn an. »Wie konnten Sie uns in derartige Gefahr bringen?«
Seine Mundwinkel zuckten angewidert. »Ich war dumm. Ich war so närrisch, dem Orden zu glauben, als sie mir erzählten, ich könnte es mit Temple aufnehmen. Sie sagten mir, er wäre schwach und leicht zu überwältigen. Sie schienen so viel über die Schattenritter zu wissen, dass ich ihnen bereitwillig Glauben schenkte. Ich wollte ihnen glauben, weil es meinem Zweck diente.«
Das war schon eher der Marcus, der ihr vertraut war der, der sich niemals vergeben könnte, sich so geirrt zu haben und so leichtgläubig gewesen zu sein.
»Können Sie mir vergeben?«, fragte er nach einer Welle.
Pru nickte. Seltsamerweise fiel es ihr sogar recht leicht. Vielleicht war sie gerade sehr großmütig gestimmt, aber vielleicht verstand sie auch einfach, warum er alle Vernunft zugunsten seines Eifers hatte fahrenlassen.
Oder sie begriff, dass das Leben zu kurz war, um Groll zu hegen.
»Ich kann und ich werde«, sagte sie. »Sie sind mein Freund, Marcus. Ein Fehler ändert daran nichts.«
Er schien überrascht. »Es war ein ziemlich großer Fehler.«
»Ja, nun, ich würde sagen, die begehen wir alle, nicht wahr?«
Sogleich wurde sein Gesichtsausdruck milder - und trauriger. »Es tut mir unendlich leid, dass wir den Gral nicht für Sie gefunden haben, Pru.«
Sie konnte nur nicken, weil ihre Kehle auf einmal zu eng war. Aber sie würde nicht weinen - jetzt nicht und nicht hier.
»Was geschieht jetzt?«, fragte sie, sobald sie wieder sprechen
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