Unter allen Beeten ist Ruh
zögerten, aber schließlich drückte Luis die Klinke herunter und steckte den Kopf durch die Tür. Herr X, dessen Blick in den Raum durch Luis versperrt war, sah, wie sich die Hand des Freundes plötzlich um die Klinke krampfte.
»Was ist? Was ist mit Dora?«, rief Herr X, und Luis trat schweigend zur Seite.
Dorabella von Schlittwitz lag in der gefüllten Badewanne, ihr Kopf war zur Seite geneigt. Der Wasserspiegel ging bis knapp unter den Wannenrand und bedeckte Mund und Nasenlöcher.
»Dorabella«, keuchte Herr X, rannte zur Wanne und zog impulsiv den Stöpsel. Das Wasser lief gurgelnd ab, aber selbst ein Laie konnte sehen, dass diese Maßnahme zu spät kam. Dorabella von Schlittwitz war tot.
Herr X drehte sich zu Luis um. In seinen Augen glänzten Tränen. »Was sollen wir tun?«
»Du weißt, was du zu tun hast«, sagte Luis ernst, »ich verschaffe dir genug Zeit. Ich gehe nicht zu den Peschmanns zurück, die anderen erfahren es noch früh genug. Ich gehe hinüber zu Pippa. Sie soll Polizei und Notarzt rufen.«
»Ich hole eine Decke. Sie kann nicht … sie soll nicht …« Herrn X versagte die Stimme.
Luis nickte. »Tu das. Und lass niemanden herein.«
Pippa saß auf der kleinen Terrasse vor dem Haus und war in ihr Manuskript vertieft, als plötzlich ein Schatten auf sie fiel. Sie sah hoch und erschrak. Luis stand vor ihr. Er sah uralt aus, bleich, mit eingefallenen Wangen und tiefen dunklen Schatten unter den Augen.
Pippa sprang auf. »Luis – setz dich. Was ist passiert? Du siehst aus … warte, ich hole dir ein Glas Wasser.«
Der alte Mann ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, winkte aber mit müder Geste ab. »Es ist Dorabella«, sagte er mit brüchiger Stimme, »du musst den Notarzt rufen.« Er machte eine erschöpfte Pause. »Und die Polizei.«
Pippa sank zurück auf ihren Stuhl.
»Die Polizei?«, flüsterte sie entsetzt. »Wie? Was …?«
»Sie liegt in der Badewanne. Sie …«, Luis rang für einen Moment um Fassung, »… sieht sehr friedlich aus. Ich … wir haben sie beim Brunch vermisst, und da wollten X und ich nachsehen, ob …« Er seufzte und erhob sich mühsam. »Ich geh jetzt zurück, X ist bei Dora geblieben. Er sollte im Moment nicht allein sein. Wenn du es dann auch den anderen sagst?«
»Ich … natürlich. Kann ich sonst noch irgendetwas …?«
Luis schüttelte den Kopf. Mit schweren, langsamen Schritten schlurfte er den Weg entlang zum Gartentor und wandte sich nach links.
Pippa sah ihm hinterher und ging dann ins Haus. Sie atmete tief durch und wählte die Nummer der Wasserschutzpolizei. Zu ihrer Erleichterung war ihr Bruder im Dienst, und sie wurde sofort zu ihm durchgestellt.
»Freddy! Du musst herkommen! Ein Todesfall!«
Freddy reagierte ruhig und professionell. »Hast du den Notarzt schon gerufen, Pippa?«
»Nein. Nein. Du bist der Erste, den ich … ich meine, die Polizei … ach, ich bin so froh, dass du Dienst hast, Freddy.«
»Wer ist es?«
»Dora. Dorabella von Schlittwitz, Dauerwohnerin. Eine alte Dame. Sie ist in der Badewanne … ertrunken.«
»Hast du sie …?«
»Nein«, sagte Pippa schnell, »Luis hat sie gefunden. Luis Krawuttke. Bitte, Freddy, komm, so schnell du kannst. Ich … Dora hat die vierte Parzelle auf der linken Seite und ich …«
»Wir werden euch finden. Wir kennen Schreberwerder«, sagte Freddy sanft, »geh jetzt zu den anderen, wenn du allein bist. Ich bringe den Notarzt mit.«
Pippa stürmte durch den Garten der Peschmanns in das kleine Häuschen. Man hatte in der schon geräumten Wohnküche einen Tapetentisch mit kleinem Buffet aufgebaut, um das sich alle Nachbarn versammelt hatten – bis auf Lutz Erdmann und Angelika Christ. Gelächter und Stimmengemurmel erfüllten den Raum.
Ein selbstgemaltes Schild an einer kleinen Girlande, die gerade von Daniel und Bonnie an der Wand befestigt wurde, sagte Danke Dorabella . Die beiden Peschmann-Teenager waren zwar in einem Alter, in dem Erwachsene nicht unbedingt ihre besten Freunde waren; Dorabella allerdings trug dazu bei, dass sie in Frankreich eine passende Bleibe fanden, und das verlieh ihr – zumindest vorübergehend – einen hohen Coolness-Faktor. Sven und Lisa hatten ihr Tischfussball herübergeholt und spielten gegen die Kästner-Kids, die auf kleinen Schemeln standen, damit sie die Griffe erreichen konnten.
Pippa verharrte im Türrahmen. Diese behagliche Stimmung würde sie nun zerstören müssen.
Karin war die Erste, die Pippas Anwesenheit bemerkte. »Da bist du ja!
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