Unter allen Beeten ist Ruh
als man vermuten würde, wenn man ihn sonst so sieht.«
»Hast du schon mit deinem Vater …«
Karin nickte. »Er … er hat ganz gefasst reagiert. Er sagt, er kommt morgen mit dem ersten Flieger aus Mailand zurück nach Berlin und dann gleich nach Schreberwerder.« Sie zögerte kurz. »Er würde gern in sein Haus zurück, bis die Beerdigung vorüber ist.«
Pippa seufzte. »Dann heißt es für mich und die Haubentaucher: zurück in die Transvaal 55. Oder kann ich solange in euer Haus ziehen?«
»Das wird eng. Ich werde auf der Insel bleiben, bis Sven sich erholt hat. So schicke ich ihn nicht in die Schule.« Sie runzelte die Stirn und dachte nach. »Und wenn du in Dorabellas Haus …? Oder ist dir das zu unheimlich?«
»Ich weiß nicht recht. Was werden Herr X und Luis zu dem Vorschlag sagen?«
»Dass es gut ist, das Haus gerade jetzt in den besten Händen zu wissen.«
Pippa fand Luis und Herrn X vor X’ Haus auf einer Bank sitzend. Auf dem Tisch vor ihnen stand eine halbleere Flasche von Dorabellas Selbstgebranntem, aus der gerade großzügig in Wassergläser nachgeschenkt wurde.
»Pippa!«, rief Luis mit leicht verwaschener Stimme. »Setz dich zu uns, wir trinken auf Dorabella.«
»Ich habe ein Anliegen«, begann Pippa, aber Luis unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Später. Zuerst wird auf Dora getrunken.«
Herr X nickte. Er hatte rote Augen und schniefte. Er ging ins Haus und kam mit einem Glas wieder zurück.
Pippa zog sich einen windschiefen Holzstuhl heran und setzte sich. Luis schob ihr das randvoll gefüllte Glas hin und hob sein eigenes.
»Auf Dora, die Unersetzliche.«
»Auf Dora«, murmelten Pippa und X.
Während Herr X und Luis ihre Gläser ansetzten und mit einem Ruck des Kopfes nach hinten leerten, nahm Pippa nur einen vorsichtigen Schluck. Fruchtiger Birnengeist rann ihr brennend die Kehle hinunter.
»Nicht schlecht«, sagte Pippa hustend, »der hat aber … Wumms.«
»Jenau wie Dora. Die hatte ooch Wumms«, verkündete Luis und schenkte sich nach.
»Pippa, du hast gesagt, du hast ein Anliegen?«, fragte Herr X.
»Ich … ja … äh, das klingt vielleicht ein wenig seltsam, aber Viktor kommt zurück, und ich brauche für ein paar Nächte einen anderen Schlafplatz.«
Die beiden Männer sahen sie erwartungsvoll an.
»Ja, und Karin hat den Vorschlag gemacht, ich könnte vielleicht bei Dora …?«
Luis und Herr X wechselten einen schnellen Blick, und X nickte kaum merklich. Dann sagte er: »Warum nicht. Das ist eine gute Idee. Dora wäre sicher einverstanden. Komm mit.«
Er stand auf und ging in sein Haus. Als Pippa zögerte, murmelte Luis: »Na, jeh schon mit.«
Herr X wartete in seinem Wohnraum auf sie. Er zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und schloss zu Pippas Erstaunen die Tür eines großen Kleiderschranks auf. Dann schob er ein paar Jacken zur Seite und öffnete die Rückwand, die in einen weiteren, leeren Schrank führte. Verblüfft beobachtete Pippa, wie er von innen die zweite Tür entriegelte und damit den Blick in Dorabellas Wohnzimmer freigab.
»Bitte einzutreten.«
Pippa trat sprachlos durch die Schranktüren in eine andere Welt. Zierliche antike Möbel, Blumenstoffe, Rüschen und edle Spitze beherrschten den kleinen, altrosa getünchten Raum. Ein dunkelrotes Samtsofa und ein verschnörkeltes Tagesbett standen sich gegenüber, dazwischen ein niedriger, runder Tisch. An die Fensterseite des Raumes hatte Dorabella einen Esstisch mit drei Stühlen gestellt.
»Schön hier«, sagte Pippa und sah sich um.
Auf dem Kaminsims entdeckte sie eine antike Tischuhr, die von der anmutigen Statuette einer sitzenden Leserin gekrönt war.
Herr X folgte ihrem Blick. »Das war ihr Lieblingsstück.« Seine Stimme klang belegt. Er schluckte krampfhaft und räusperte sich, bevor er weitersprach. »Das … das Bad habe ich geputzt. Du kannst alles benutzen, es ist … sauber.«
Seine Augen füllten sich mit Tränen, und Pippa legte ihm die Hand auf den Arm.
»Ihr habt euch sehr gemocht, nicht wahr?«
Herr X nickte. »Wir haben viel Zeit miteinander verbracht und abends oft beieinandergesessen. Ich habe ihr ein bisschen geholfen, mit dem Haushalt und den Einkäufen. Sie war eine echte Dame.«
»Glaubst du auch, dass … ich meine, das, was Luis vorhin zu meinem Bruder Freddy gesagt hat …?« Pippa wusste nicht weiter.
»Du meinst, dass es kein Unfall war?«
Pippa nickte.
Er wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, aber ich bin verwirrt, das gebe ich zu.
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