Unter allen Beeten ist Ruh
dass ich sie gesehen habe, als sie aus dem Gartentor kam. Was meinst du?«
Sven nickte. »Gute Idee.« Er sah erleichtert aus.
»Du wirst sehen, es gibt immer eine Erklärung. Für alles.«
Was sie nicht laut aussprach, war, dass eine Erklärung nicht immer harmlos sein musste.
Das Gespräch mit Sven ging Pippa noch immer durch den Kopf, als sie schon längst in ihren Schlafsack gekuschelt die Sterne über sich betrachtete. Ida Marthaler, die nachts aus Dorabellas Haus kam und der Polizei diesen wichtigen Umstand verschwieg … und ein Gewächshaus voller Marihuana.
Pippa überlegte, mit wem sie darüber sprechen sollte. Mit Herrn X, der offenbar Doras heimliche Leidenschaft geteilt hatte? Oder mit Viktor, der Dora mehr als nur freundschaftlich verbunden gewesen war? Ob es ein Testament gab, das die beiden bedachte? Oder sollte sie mit Nante reden, für den Dorabella sogar ihre Ersparnisse opfern wollte und der nun den Schrebergarten der Peschmanns nicht würde kaufen können?
Langsam driftete Pippa in den Schlaf, mitten hinein in einen wilden Traum, in dem sämtliche erwachsenen Bewohner Schreberwerders in bunter Hippiekleidung in Dorabellas Garten auf dem Rasen saßen, riesige Joints kreisen ließen und selbstgebrannten Schlehenschnaps tranken.
Die Klinke knarrte leise, als die schwarz gekleidete Gestalt sie vorsichtig hinunterdrückte. Die Person hielt einen Moment inne, um zu lauschen. Dann huschte sie auf Zehenspitzen hinein und zog die Tür hinter sich zu, gab sich aber keine besondere Mühe, leise zu sein.
Der dünne Lichtstrahl einer Taschenlampe tanzte zitternd durch den Raum und verharrte auf Dorabellas zierlichem Kirschholz-Sekretär. Eine Schublade nach der anderen wurde quietschend aufgezogen und wieder geschlossen, alles wurde langsam und vorsichtig nach einem Mechanismus für ein eventuelles Geheimfach abgetastet.
Schließlich zog die Gestalt scharf die Luft ein und drückte auf einen verborgenen Knopf. Mit leisem Klicken öffnete sich ein verstecktes Fach, und der Eindringling zog einen Briefumschlag hervor, der mit den Worten Mein letzter Wille beschriftet war. Er faltete ihn nachlässig zusammen und stopfte ihn sich hinten in die Hosentasche.
Wie ein Schatten huschte die Gestalt wieder zur Tür hinaus, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass auf Schreberwerder alles ruhig war. Leise Schritte knirschten auf dem feinen Sand der Dorfstraße.
Pippa lag mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem auf der Gartenliege. Ein Geräusch hatte sie aus tiefstem Schlaf hochfahren lassen. Sie versuchte sich zu orientieren. Auf einmal war sie sich völlig sicher, dass da noch jemand war.
Sie aktivierte durch einen Knopfdruck die Beleuchtung ihrer Armbanduhr. Die Ziffern schimmerten rot in der Dunkelheit und zeigten die Uhrzeit: 3.28 Uhr. Selbst Herr X würde um diese Zeit nicht einfach Dorabellas Haus betreten, geheime Schranktür hin oder her. Oder konnte Viktor nicht schlafen und war noch einmal in Doras Haus gegangen, um Abschied zu nehmen?
Krampfhaft versuchte Pippa, sich zu beruhigen. Gerade als sich ihr Herzschlag wieder normalisierte, klappte leise die Haustür zu und versetzte ihr einen erneuten Schreck. Kaum hörbare Schritte entfernten sich Richtung Steg.
Pippa befreite sich aus dem warmen Schlafsack und schlich auf Zehenspitzen zur Vordertür. Die Insel lag völlig ruhig da, nur die Wellen klatschten leise an das nahe Ufer. Pippa konnte plötzlich nicht mehr sagen, ob sie die Geräusche nicht doch geträumt hatte. Sie beschloss, sich im Haus umzusehen.
Im Wohnzimmer schaltete sie das Deckenlicht an. Der hell erleuchtete Raum sah aus wie gewohnt. Wer immer der Eindringling gewesen war – er hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen.
Kapitel 9
A m Tag von Dorabellas Beisetzung strahlte die Sonne aus tiefblauem Himmel.
Das Beerdigungsunternehmen hatte nach Dorabellas Wünschen auf dem Dorfplatz ein großes Zeltdach errichtet und einige Reihen Stühle aufgestellt. Da die Insulaner wussten, wie sehr Dora diese Blumen liebte, hatten alle ihre Rosen geschnitten, um den Sarg und die Rieke angemessen zu schmücken.
Der Sarg ruhte auf einem Katafalk. Mannshohe Windlichter enthielten dicke, cremefarbene Kerzen, und ein schmales Pult stand für diejenigen bereit, die ein paar Worte sagen wollten.
Langsam füllten sich die Stuhlreihen mit Trauergästen, die auch von benachbarten Inseln herübergekommen waren. Alle waren festlich gekleidet; selbst Herr X trug einen schwarzen Pullover.
Nante
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