Unter alten Bannern (Die Chroniken von Vanafelgar) (German Edition)
Volkes zu erklären.
»Komm doch in mein Zimmer, dort kannst du dich setzen. Es gehört sich auch nicht, eine Besucherin einfach auf dem Flur stehen zu lassen. Ich werde dir dort dann alles erklären.«
Whenda folgte ihm in sein Zimmer und nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Humir setzte sich ihr gegenüber auf den zweiten Stuhl und begann mit seiner Erklärung.
»Schon vor vielen Jahren beschloss mein Volk, das es besser wäre, wenn alle Bürger, die das sechzigste Lebensjahr vollendet hatten, sich auf den Falkenstein zurückziehen und dort bis zu ihrem Ende bleiben. Jedoch durfte seit vielen Jahrhunderten auch niemand mehr, der jünger war als sechzig, die Tore dieser Festung durchschreiten. Nach dem Sturz des Fürstenhauses waren getreue Anhänger der Fürstin dort verblieben und schafften es, die Revolte niederzuschlagen. Dann ließen sie niemanden mehr in die weitläufige Anlage hinein, die uneinnehmbar war, so wie Wenja die Rote sie erbauen ließ. Der einzige Zugang führt durch eine gewaltige Mauer, die nicht zu bezwingen ist. Es braucht auch nur einhundert beherzte Männer, um jede anrückende Armee abzuweisen oder sich an der Mauer aufreiben zu lassen.«
Whenda wusste dies, doch sie unterbrach den Mann nicht und stellte auch keine Zwischenfragen, um seinen Redefluss nicht vorzeitig zu stoppen.
»Aber nach einigen Jahrhunderten war die Festung für die Nachkommen der ersten Getreuen zu klein geworden. Sie konnten dort nicht genügend Nahrung anbauen. So entschied man sich, dass einige hinunter nach Xenorien gingen, um dort Felder anzulegen und Vieh zu züchten. Dies verlief lange Zeit ohne größere Störungen, denn die Thainkriege hatten inzwischen begonnen und die neuen Herren der alten Lehen von Fengol bekriegten sich gegenseitig.«
Whenda nickte immer wieder und gab dem Mann so zu erkennen, dass sie seine Worte verstand und seiner Erzählung folgen konnte. Es interessierte sie zwar brennend, wer der erste Anführer dieser Getreuen gewesen war, denn sicher kannte sie ihn, doch sie unterdrückte die Frage.
»In jener Zeit wuchs das Volk der Getreuen stark an. Die Lebensmittel, die aus Xenorien hinauf in den Falkenstein gebracht werden mussten, durften um keinen Preis ausbleiben. Daher beschloss einer der Verweser«, Humir wusste dessen Namen nicht, »dass die Schutzstadt von Lahrewan gebaut werden musste. Zuerst war der Ort nur als Trutzburg angelegt, mit der Zeit jedoch wurde er immer weiter ausgebaut. Als dann der Thain von Fengol, welcher weit im Norden in der Wachenburg seinen Sitz hatte, begann, Xenorien zurückzuerobern, kam es zu unvorstellbaren Gräueln an den Siedlern, die inzwischen in ganz Xenorien verstreut lebten. Da die Alten und Schwachen oft nicht zu fliehen vermochten und sich daher nicht rechtzeitig in Sicherheit brachten, waren sie dem Zorn der Soldaten des Thains ausgesetzt. Jede größere Schlacht gegen dessen Heer gewannen unsere Vorfahren jedoch. Seine Gelüste nach unserer Unterwerfung ließen erst nach, als er sich selbst von den Thainen des Waldlandes und Kelnoriens bedroht sah. Diese wollten sein Land unter sich aufteilen und griffen ihn mit vereinten Kräften an. Er schaffte es jedoch, die Eindringlinge wieder hinter den Fendanor zurückzuwerfen. In den Jahren, in denen er so abgelenkt war, bauten sie die Stadt Lahrewan so aus, wie du sie heute noch sehen kannst. Das Herz unseres Reiches ist jedoch der Falkenstein. Damals wurde auch beschlossen, dass dort nur die Alten und Schwachen ihren Sitz nehmen sollten. Zuerst lag das Alter, in dem man in die Festung durfte, bei fünfundsiebzig Jahren, aber im Laufe der Zeit wurde es immer weiter heruntergesetzt. Wir können unsere Verwandten dort jederzeit besuchen, wenn sie noch laufen können. Denn es wurde auch eine Halle der Begegnung ungefähr eine Wegstunde vor der großen Mauer errichtet. Aber hinein darf man erst, wenn man sechzig ist. Der Falkenstein hat nichts von seiner alten Pracht eingebüßt. Die Alten halten ihn gut in Schuss.«
»Warst du schon einmal darinnen?«
Whendas Frage kam für Humir so unverhofft, dass es fast so aussah, als ob sie ihn ertappt hatte. Er zuckte förmlich unter der Frage zusammen. Whenda sah ihn eindringlich an.
»Sage mir die Wahrheit, Humir«, forderte sie den Mann auf. Er stand von seinem Stuhl auf, stellte sich vor sie und kniete vor ihr nieder.
Als er dann auch noch sein Haupt senkte, sagte er: »Ja, Herrin, ich war in der Festung und ich weiß auch, wer du bist, hohe Frau. Du bist
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