Unter deinem Stern
»Selbstverständlich bekommen Sie das Design, das wir besprochen haben. Absolut kein Problem.«
Aber er hatte ein Problem, und das waren seine Träume. Neuerdings wurden sie immer surrealistischer. Erst letzte Nacht hatte er den seltsamsten Traum gehabt. Er war mit wild klopfendem Herzen durch die Straßen von Whitby gerannt. Anfangs hatte er gar nicht gewusst, wovor er eigentlich davonlief, nur dass er fliehen und sich verstecken musste. Doch dann war etwas Schreckliches passiert – er war ein paar Stufen hinuntergestürzt und konnte nicht mehr aufstehen-, es war, als klebten seine Glieder am Pflaster fest. Sein Verfolger hatte ihn bald darauf eingeholt. Ihm war vor Entsetzen fast das Blut in den Adern gefroren, denn dort, glänzend in der engen Gasse, kam ein gigantischer Goldfisch durch die Luft auf ihn zugeschwommen! Das Grässlichste an dem Vieh war dessen menschliches Gesicht gewesen. Es war nicht einmal irgendein Gesicht gewesen, sondern das von Felicity.
Gott, was für ein Albtraum! Aber der Traum war damit noch nicht zu Ende gewesen. Irgendwie hatte er es geschafft, aufzustehen und vor dem Felicity-Fisch zu flüchten, und dann war auf einmal die Mondscheinfrau erschienen, einer dieser seltsamen Zufälle, wie sie nur in Träumen vorkommen.
»Haben Sie vor, das Buch zu kaufen?«, hatte sie gefragt.
»Nein«, hatte Simon geantwortet und verzweifelt versucht, noch etwas zu ihr zu sagen, doch seine Zunge hatte sich schwer und nutzlos angefühlt und die Mondscheinfrau war ebenso schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
Er war schweißgebadet und fluchend aufgewacht. Es war einfach lächerlich. Er war ihr nur ein einziges Mal begegnet, und sie hatten nur ein paar Worte ausgetauscht, ziemlich banale Worte noch dazu, und doch träumte er von ihr. So etwas war ihm nie zuvor passiert, und er wusste nicht, wie er sich das erklären sollte, es sei denn – er war dabei, sich zu verlieben. Heiliger Strohsack! Das konnte doch nicht wahr sein. Er hatte überhaupt keine Zeit, sich zu verlieben. Gerade jetzt käme die Liebe zum ungünstigsten Zeitpunkt, doch er spürte, dass er nicht dagegen ankam. Sie war so ätherisch und lebenspendend wie Sauerstoff, und egal, wie sehr er sich dagegen wehrte, es gab einfach kein Entrinnen.
Kopfschüttelnd versuchte Simon sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, als er das Stockwerk erreichte, wo das Büro lag, in dem er früher gearbeitet hatte.
»Hallo, alter Junge!«, begrüßte ihn sein ehemaliger Chef Mark, als Simon in der Tür erschien. »Schön, dich zu sehen.« Er schüttelte ihm kurz die Hand. »Du sitzt da drüben, neben Mandy.« Wie immer war Mark auf dem Sprung, zu sehr im Stress, um mehr als ein paar Sätze aneinander zu reihen.
Neben Mandy. Mandy, der Männerfresserin. Verdammt.
Mandy blickte auf, als Simon den Raum durchquerte. »Hallo, Simon!«, flötete sie, klimperte mit ihren blau getuschten Wimpern und warf ihre schwarz gefärbten Haare über die Schulter.
»Morgen, Mandy«, erwiderte er so förmlich wie möglich, »Schön, dass du wieder da bist«, gurrte sie und drehte sich mit ihrem Stuhl in seine Richtung, um ihm einen Blick auf ihre schönen Beine zu gewähren, die von dem Minirock kaum bedeckt wurden. »Ich hätte gar nicht damit gerechnet, dich hier noch mal zu sehen.«
»Ich auch nicht«, gestand Simon, setzte sich und stellte die Höhe an seinem Schreibtischstuhl ein. Nein, nachdem er im vergangenen Jahr in die Freiheit ausgebrochen war, hätte er sich niemals träumen lassen, dass er noch einmal vor seinem alten Chef zu Kreuze kriechen würde. Doch die Zeiten waren hart, und er wusste einfach nicht mehr, wie er seine Rechnungen bezahlen sollte.
»Aber es ist schön, dich wieder hier zu haben«, fügte Mandy mit einem verführerischen Lächeln hinzu.
Simon hatte sich immer von Mandy fern gehalten und fluchte innerlich darüber, dass Mark es nicht geschafft hatte, ihm seinen alten Arbeitsplatz zuzuteilen. Er schaute sich auf dem Schreibtisch um, der ihm zugewiesen worden war. Eine Zumutung. Er war übersät mit Papieren, mitten in dem Chaos standen zwei alte, benutzte Kaffeetassen, die selbst die Putzfrauen nicht anzurühren gewagt hatten, und zwischen den Blumentöpfen eine Reihe kleiner Bilderrahmen mit Familienfotos. Simon betrachtete die Personen, die ihn aus den bunten Rahmen anstarrten. Zwei Kinder mit schmuddeligen Gesichtern, eine Mutter mit einem schlafenden Baby auf dem Arm, ein Vater mit einem Kind, das ihm fast vom Rücken
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