Unter deinem Stern
drängte Jalisa.
»Nichts«, log Claudie. »Ich hab mich bloß über etwas aufgeregt, das Dr. Lynton zu mir gesagt hat.« Sie seufzte. Am liebsten würde sie überhaupt nicht mehr an den schrecklichen Vorfall denken, am liebsten würde sie ihn einfach vergessen. »Ich habe eine Bemerkung über einen Fremden fallen lassen, den ich im Antiquariat getroffen habe, und Dr. Lynton hat gleich ein Riesending daraus gemacht.«
»Über einen fremden Mann?«
»Ja.«
»Verstehe.«
Claudie schaute dem Engel in die Augen. Konnte Jalisa nachvollziehen, wie es ihr ging? Konnte sie verstehen, dass sie sich von Dr. Lynton verraten fühlte und zugleich das Gefühl hatte, Luke verraten zu haben? Konnte sie sich vorstellen, was sie für ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie einen anderen Mann auch nur angesehen hatte? Es war alles so furchtbar, und es war viel zu früh.
»Ja, ich verstehe«, sagte Jalisa noch einmal, als hätte sie Claudies Gedanken gelesen. Dabei beließ sie es.
Eine Weile später sagte sie: »Weißt du, für manche ist Reden eine Form der Trauer. Sie trauern, indem sie sich an den geliebten Menschen erinnern und über ihn sprechen.«
»Das tue ich fast nie«, gestand Claudie.
»Ich weiß. Dennoch glaube ich, wir könnten dir dabei helfen.«
»Bisher hat mir niemand Gelegenheit gegeben, über Luke zu sprechen. Es ist, als hätte er nie existiert, und das ist doch nicht richtig, oder?«
»Solange du ihn nicht vergisst, Claudie, wird er nie wirklich tot sein. Er wird immer in deinem Herzen weiterleben.«
Claudie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten.
»Nicht weinen! Ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Ich wollte nur, dass du dich an alles erinnerst, was du an ihm geliebt hast.«
»Aber das würde mich erst recht zum Weinen bringen!«
Jalisa lächelte. »Ich wünschte, ich wäre groß genug, um dich in den Arm zu nehmen«, sagte sie.
»Ja, das wünsche ich mir auch«, erwiderte Claudie und wischte sich hastig die Tränen fort, bevor jemand im Büro sie sehen konnte. »Es macht mich so traurig, dass mich niemand in den Arm nimmt. Luke hat mich immer so liebevoll gedrückt. In seinen Armen habe ich mich warm und sicher gefühlt. Es war das schönste Gefühl auf der Welt.«
»Jeder braucht jemanden, der ihn in den Arm nimmt«, sagte Jalisa wehmütig.
»Bis ich Luke kennen gelernt habe, hat mich nie jemand gedrückt«, sagte Claudie, inzwischen nicht mehr ganz so traurig. »Meine Mutter hat immer nur auf die französische Art die Luft neben meinen Wangen geküsst. Wer diesen Brauch erfunden hat, gehört geohrfeigt. So was Sinnloses! Ich meine, wenn man schon jemanden umarmt, dann soll man es gefälligst richtig machen.«
»Absolut!«, pflichtete Jalisa ihr bei. »Und wenn die Rippen dabei brechen!« Sie grinste. »Wie habt ihr beiden euch eigentlich kennen gelernt?«
Claudie musterte Jalisa eingehend. Anscheinend war sie in ihre Rolle als Schutzengel geschlüpft. Manchmal fiel es ihr schwer, zwischen dem Schutzengel und der Freundin zu unterscheiden. Vielleicht gab es aber auch keinen Unterschied, und genau das machte einen Teil des Zaubers aus.
Claudie schaute an die Decke. Wie hatte sie Luke kennen gelernt?
Es war an einem regnerischen Tag gewesen, Claudie war in der Mittagspause in die Bibliothek gegangen. Sie hatte keine Lust gehabt, Kristen bei ihrem Einkaufsbummel zu begleiten, weil sie genau wusste, dass ihre Freundin jedes einzelne Paar Schuhe in ganz Whitby anprobieren würde.
Kaum war sie in der Bibliothek angekommen, fragte sie sich auch schon, warum sie sich die Mühe gemacht hatte; sie hatte bereits sämtliche dort vorhandenen Bücher gelesen, die sie interessierten, und wegen des schmalen Budgets wurde die Filmabteilung schon seit langem nicht mehr erweitert.
Sie schlenderte umher und ließ den Blick über die Regale wandern, die zerfledderten Taschenbücher und die verblassten Schutzumschläge der gebundenen Bände. Die Bücher in Bibliotheken sehen meist nach kurzer Zeit ziemlich schäbig aus. Viele Leser gehen schlecht damit um und hinterlassen ihre Spuren in ihnen in Form von Kritzeleien, Kaffee-, Gras- und Blutflecken.
Claudie verzog angewidert das Gesicht und beschloss, wieder ins Büro zurückzukehren. Auf dem Weg nach draußen warf sie einen Blick aufs schwarze Brett.
»Man kann ja nie wissen!«, flüsterte eine leise Stimme in ihr. Wie immer hingen dort die üblichen Zettel, auf denen die örtlichen Chöre um Mitglieder warben oder Laienspielgruppen
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