Unter deinem Stern
eigentlich ein!«, schalt Mary ihre Schwester.
»Der Kerl geht mir einfach auf die Nerven mit seinen blöden Kräutern. Mit dem Zeug kann man schließlich kein gebrochenes Herz heilen, oder?«
»Ruhe jetzt!«, rief Jalisa. »Wir wollten versuchen herauszufinden, was Claudie möchte.«
Auf dem Schreibtisch kehrte Stille ein, als die fünf Engel Claudie erwartungsvoll musterten.
Sie blickte auf die kleine Schar hinunter und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich möchte einfach mein Leben wieder in den Griff bekommen, aber keiner lässt mich.«
12
Es war Montagnachmittag, und Claudie wusste nichts mit sich anzufangen. Sie brauchte keine Lebensmittel einzukaufen, und durch Boutiquen zu bummeln hatte sie noch nie besonders gereizt, obwohl sie Halbfranzösin war. Nach Hause wollte sie jedoch auch noch nicht. Am frühen Nachmittag besaß ihre MGM-Welt nicht dieselbe Anziehungskraft.
Als sie das Büro verließ und sich auf den Weg in die Stadt machte, fühlte sie sich seltsam fehl am Platze, so als wäre sie aus ihrem Leben getreten. Dieses Gefühl hatte sie in den vergangenen Monaten häufig gehabt. Es war, als lebte sie in einer Zwischenwelt, als gehörte sie nirgendwo mehr hin. Sie war sich selbst fremd geworden, und ihrer Arbeit hatte sie sich anscheinend ebenfalls entfremdet. Und das ausgerechnet jetzt, wo sie geglaubt hatte, es gehe ihr schon wieder viel besser.
Claudie seufzte. Ihre Arbeit war ihr Prüfstein, ohne sie wäre sie verloren. Konnte Mr Bartholomew nicht verstehen, dass er ihr mehr schadete als nützte, indem er sie nach Hause schickte? Was erwartete sie denn schon dort?
Sie beschloss, einen Spaziergang zu machen. Es wehte ein eisiger Wind, aber der würde sie beleben, und dann würde ihr vielleicht einfallen, was sie mit ihrem unerwarteten Urlaub anstellen konnte.
Sie stieg die hundertneunundneunzig ausgetretenen Stufen zur St. Mary’s-Kirche hinauf. Die Treppe war ein beliebter Trampelpfad der Touristen, doch heute war es ruhig hier.
Vom Hügel aus gesehen wirkte das Meer wie eine einheitlich graue Schieferplatte. Ebenso wie der Himmel. Claudie blickte auf die Häuser der Stadt hinunter. Die roten Dächer kamen ihr stumpf und langweilig vor. An so einem Tag würde bestimmt kein Künstler auf die Idee kommen, diese Aussicht zu malen.
Whitby konnte wirklich ein fürchterlich einsamer Ort sein, vor allem im Winter, wenn nicht nur die Sonne, sondern auch die Urlauber vergaßen, dass es ihn gab. Claudie vermisste die Touristen. So sehr sie den Plunder verabscheute, der in den Andenkenläden feilgeboten wurde – natürlich abgesehen von Jimmys Schiffen –, genoss sie die gute Laune, die die Fremden verbreiteten. Die vielen Leute, die alle die gleichen knallbunten Anoraks trugen und mit leuchtenden Augen an riesigen Eistüten schleckten, entlockten ihr immer wieder ein Lächeln. Aber heute gab es überhaupt nichts zu lächeln.
Sie schlenderte über den Friedhof und schlug den Kragen ihrer Jacke zum Schutz gegen den eisigen Wind hoch. Sie wusste, wohin sie unterwegs war. Es war eine Art persönliche Pilgerfahrt. Etwas, das die Touristen nicht kannten, das sie jedoch lebhaft interessierte, wenn sie das Glück hatten, darauf zu stoßen: eine einfache Inschrift über einem Grab. Sie berichtete von Francis und Mary Huntroods, die beide am selben Tag geboren waren und die, nachdem sie an ihrem gemeinsamen Geburtstag geheiratet hatten, zwölf Kinder bekamen. Sie starben beide im Alter von achtzig Jahren an dem Tag, an dem sie geboren worden waren, und zwar »innerhalb von fünf Stunden«.
Claudie lief ein Schauer über den Rücken, als sie die Worte zum hundertsten Mal las. Warum war sie nicht zusammen mit Luke gestorben? Sie erinnerte sich daran, wie verzweifelt sie gewesen war, als sie erkannte, dass sie nicht gleichzeitig mit ihm sterben würde. Alle möglichen Gedanken waren ihr durch den Kopf gegangen. War das nicht ein Zeichen wahrer Liebe? Warum lebte sie noch? Welchen Sinn konnte ihr Leben jetzt noch haben?
Luke war der perfekte Partner gewesen, ihre einzige Chance, ihr Glück zu finden. Wie konnte sie erwarten, noch einmal eine solche Chance zu bekommen? So etwas passierte niemandem zweimal. Sie hatte ihr Quäntchen Glück gehabt. Gut, im Vergleich zu ihrem ganzen Leben war es nur ein Augenblick gewesen, aber sie hatte es gehabt, und wegen dieser Erkenntnis fühlte sie sich so leer, so erschreckend allein, dass sie wünschte, sie könnte in eins der Gräber auf dem Friedhof hinabsteigen, die
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