Unter deinem Stern
Augen schließen und im Nichts versinken.
Sie betrachtete das Grab der Huntroods und beneidete das Paar um die gemeinsame Stille. Ahnten sie, was die beiden für ein Glück gehabt hatten? Sie hatten ihr ganzes Leben miteinander geteilt, und nun teilten sie die Ewigkeit.
Claudie schloss die Augen. Wie konnte so ein lebensprühender Mensch einfach tot sein? Es kam ihr so absurd vor. Kein Wunder, dass die Menschen sich in solchen Zeiten der Religion zuwandten und anfingen, an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Es war die einzige Möglichkeit, nicht verrückt zu werden – sich vorzustellen, dass der geliebte Verstorbene in Wirklichkeit gar nicht tot, sondern nur in eine andere Dimension übergegangen war.
Claudie schlug die Augen auf und betrachtete die Abtei, die hinter der Kirche in den silbergrauen Himmel aufragte. Sie suchte sich eine Bank, setzte sich und beobachtete die Schiffe im Hafen, lauschte dem Kreischen der Möwen und schaute den Wellen zu, die wie weiße Pferde über das Meer jagten.
Es stimmte, das Leben ging weiter, aber die Erkenntnis barg keinen Trost. Die Jahreszeiten, die mit grausamer Vorhersehbarkeit ineinander übergingen, schienen Claudie zu verspotten. Nach dem Sommer, in dem Luke gestorben war, hatte sie den Herbst dafür gehasst, dass er den Sommer verdrängte, und den Winter, weil er das erste Weihnachtsfest ohne Luke mit sich brachte. Jetzt drohte der Frühling anzubrechen und sie mit seiner Schönheit zu verhöhnen: mit einer Palette blasser Farben, die Luke niemals sehen würde.
Einen Moment lang verschloss sie die Augen vor der Welt und zog sich in die Glückseligkeit der Dunkelheit zurück. Das war schon zur Gewohnheit geworden. Häufig, wenn sie die Welt nicht mehr ertragen konnte, wenn ihr vom vielen Weinen die Augen brannten, suchte sie Zuflucht im Schlaf. Jetzt war ihr, als könnte sie dort auf der Bank einfach einnicken, trotz der bitteren Kälte, aber irgendetwas hinderte sie daran. Vor ihrem geistigen Auge sah sie eine kleine Gestalt tanzen und sich drehen, bis ihr vom Zuschauen beinahe schwindlig wurde, aber es war nicht Jalisa. Es war ein Mann, der graziös und mühelos tanzte. Er lächelte, und er sah aus, als hätte er Sonnenschein oder Sternenlicht getrunken, das nun in seinen Adern floss, denn er tanzte mit völliger Hingabe und noch ein wenig mehr.
Claudie beobachtete ihn wie gebannt. Der Tänzer bewegte sich einmal elegant und beschwingt, dann wieder mit heftigen, rasanten Bewegungen. Es konnte sich nur um einen einzigen Mann handeln.
»Gene?«, stammelte Claudie, öffnete die Augen und sah einen Mann in einem Matrosenanzug neben sich auf der Bank sitzen.
»Hallo, Claudie«, sagte Gene Kelly und blickte sie mit seinen strahlenden Augen an.
»Bist du es wirklich?«
»Ich bin’s wirklich«, erwiderte er mit einem Lächeln, das den grauen Tag kurz erhellte. »Mensch, Claudie, es tut mir weh, dich so traurig zu sehen«, sagte er mit einer tiefen, ernsten Stimme.
»Was machst du hier?«, fragte sie verblüfft.
»Ich wollte dich besuchen. Ich dachte, ich könnte dich vielleicht ein bisschen aufmuntern«, sagte er achselzuckend. »Du hast einfach so ausgeschaut, als könntest du Gesellschaft gebrauchen.«
»Erst tauchen fünf Engel auf meinem Schreibtisch auf, und als Nächstes sitzt Gene Kelly neben mir auf einer Friedhofsbank!« Sie gab sich alle Mühe, nicht laut zu lachen, um nicht undankbar zu erscheinen. »Bist du etwa auch ein Engel? Also, ich meine, nicht dass es mir etwas ausmachen würde.«
»Nein!« Er lächelte. »Ich bin kein Engel.«
»Hätte mich auch gewundert. Du bist immerhin etwas größer als Jalisa und ihre Begleiter.«
Sie schwiegen eine Weile. Claudie beobachtete Gene Kelly. Was in aller Welt sagte man, wenn man sich urplötzlich seinem Idol gegenüber sah? War dies der richtige Moment, um ihm ihre Lieblingsfilme aufzuzählen? Durfte sie ihn fragen, wer seine Lieblingsfilmpartnerin war? Konnte sie es wagen, ihn um einen Tanz zu bitten?
»Du hast es im Moment ziemlich schwer, stimmt’s?«, sagte er.
Sie öffnete den Mund und spürte, wie ihre Augen sich schon wieder mit Tränen zu füllen drohten. Hilflos schüttelte sie den Kopf. »Ich gebe mir Mühe – wirklich, aber es ist nicht leicht.«
»Die Filme helfen dir auch nicht?«
Claudie musterte ihn. »Doch«, erwiderte sie, »aber sobald der Bildschirm schwarz wird, ist die Traurigkeit wieder da.«
»Filme dauern eben nicht ewig.«
»Nein«, sagte Claudie und dachte daran, wie
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