Unter deinem Stern
riechen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie traurig mich das gemacht hat. Dann bin ich prompt in Tränen ausgebrochen – wegen einer blöden Apfelsine! Bei den kleinsten Kleinigkeiten gerate ich aus dem Häuschen.«
Wieder schwieg sie und hing ihren Gedanken nach.
»Seine Hände fehlen mir«, sagte sie nach einer Weile. »Ist das nicht seltsam? Natürlich fehlt mir alles, was mit ihm zu tun hat, aber seine Hände – sie haben Luke für mich mehr verkörpert als alles andere. In einem von Dr. Lyntons Büchern ist beschrieben, dass man die merkwürdigsten Dinge vermisst: zum Beispiel die Art und Weise, wie jemand Lebensmittel in den Kühlschrank räumt, oder die Geräusche, die er macht, wenn er von der Arbeit kommt – wie er die Tür aufschließt, wie er sich die Schuhe an der Fußmatte abstreift. An diese alltäglichen Kleinigkeiten gewöhnt man sich so sehr, dass man gar nicht mehr merkt, wie wichtig sie sind – bis sie einem fehlen.«
»Trotzdem muss man loslassen können«, sagte Jalisa.
»Manchmal höre ich ihn immer noch. Wenn ich in der Küche bin, könnte ich schwören, dass er gerade in einer von seinen Bergsteigerzeitschriften blättert. Oder wenn ich im Wohnzimmer bin, höre ich, wie er mit einem Löffel in seiner Lieblingstasse rührt. Dann wage ich nicht, mich zu bewegen, denn ich weiß, sobald ich aufstehe, ist der Bann gebrochen. Solange ich mucksmäuschenstill sitzen bleibe, kann ich mir einbilden, er sei immer noch bei mir.«
»Er ist immer bei dir, Claudie. Er wacht auch über dich«, sagte Jalisa.
»Wirklich?«
»Natürlich! Er wäre ein schlechter Ehemann, wenn er dich vergessen würde, bloß weil eine kleine Unannehmlichkeit namens Tod euch getrennt hat.«
»Ich wünschte, ich könnte spüren, dass er da ist. Ich wünschte, ich könnte es richtig fühlen. Darüber hab ich auch was gelesen, über Leute, die die Gegenwart ihrer geliebten Verstorbenen spüren können. Es ist alles so ungerecht. Ich vernehme ab und zu ein Geräusch, das mich einen kurzen Augenblick lang glauben lässt, er sei noch da. Aber gleichzeitig weiß ich, dass ich mir etwas vormache.«
»Claudie«, sagte Jalisa mit einer Stimme so weich wie Sommerregen, »das wird mit der Zeit besser werden. Ich weiß, das sagt dir jeder. Wahrscheinlich hängt es dir längst zum Hals heraus, dir immer wieder dasselbe von Leuten anzuhören, die in Wirklichkeit keine Ahnung haben, was in dir vorgeht, und ich weiß, dass jeder Ratschlag wie ein Klischee klingt, doch glaub mir, die Zeit heilt alle Wunden. Das hilft dir natürlich jetzt nicht, weil du in der Gegenwart lebst, trotzdem darfst du nicht annehmen, es würde immer so bleiben. Du bist noch jung –«
»Schon wieder ein Klischee.«
»Ich weiß! Aber ein Klischee wird zum Klischee, weil die wenigen Worte eine Menge Wahrheit enthalten«, sagte Jalisa. »Dein Leben wird nicht immer so sein, wie es jetzt ist. Deine Gefühle werden sich ändern, weil du dich ändern wirst. Du wirst neue Menschen kennen lernen –«
»Nicht!«
»Was nicht?«
»Sag nicht, was ich vermute, das du sagen willst.«
Jalisa blickte konsterniert drein. »Ich wollte überhaupt nichts sagen.«
Claudie musterte sie eingehend. Sprach sie die Wahrheit? Ihre dunklen Augen wirkten verwirrt, und Claudie bekam sofort ein schlechtes Gewissen.
»Entschuldige bitte«, sagte sie. »Ich habe nur manchmal das Gefühl, dass alle mich zu etwas drängen, wozu ich noch nicht bereit bin. Kann ich mein Leben nicht eine Zeit lang anhalten? Was ist an dem Wunsch verwerflich?«
»Nichts, Claudie.«
»Selbst dass ihr hier seid, setzt mich unter Druck. Ich werde einfach den Gedanken nicht los, dass alle von mir verlangen, ich soll Luke vergessen. So weit bin ich noch nicht.«
»Das ist nicht der Grund, warum wir hier sind.«
»Wirklich nicht? Bist du sicher? Ich will ja nicht unhöflich sein, aber manchmal sehne ich mich nur nach Ruhe.«
Jalisa seufzte. »Du möchtest, dass wir gehen? Ist es das?«
Claudies Augen füllten sich mit Tränen, die sie hastig fortwischte. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Nein! Geht nicht. Ihr werdet mich doch noch nicht verlassen, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte Jalisa, und Claudie meinte, eine Spur von Erleichterung aus ihren Worten herauszuhören. »Wir bleiben, so lange du es möchtest.«
Um zwei Uhr lenkte eine strenge Stimme Claudie von Jalisas neuester Stepptanzvorstellung ab. Es war Mr Bartholomew. Als Claudie sich umdrehte, wäre sie beinahe mit seiner Hakennase
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