Unter deinem Stern
schrecklich sie es jedes Mal fand, wenn das Wort Ende erschien. Es wirkte wie ein Hohn. So, das war’s, schien es zu sagen. Du hast deine neunzig Minuten Glück gehabt, jetzt sieh zu, dass du dein Leben wieder in den Griff bekommst. Dann verstummte die Musik, das Tanzen hörte auf, und die Wirklichkeit streckte ihre kalten Finger nach ihr aus.
»Wohin verschwinden all die Farben und die Musik? Wo geht das alles hin?«
Gene schaute auf das Meer hinaus. »In dein Herz vielleicht? Damit du es dort bewahren kannst.«
Claudie überlegte. Er klang so aufrichtig, und sie wollte ihm so gern glauben. »Manchmal spule ich einen Film immer wieder zurück und lasse ihn noch einmal von vorne abspielen, bloß um nicht auf einen schwarzen Bildschirm starren zu müssen. Aber das Leben kann man leider nicht zurückspulen.«
»Nein, das geht nicht«, sagte er langsam.
»Ich hatte geglaubt, ich hätte mein Happy End gefunden, Gene. Genauso wie Gaby in On the Town Miss Turnstiles gefunden hat und Joe in Urlaub in Hollywood seine Tante Susie.«
»Das sind Filme, Claudie. Das gehört zum Zauber eines Musicals. Ich fürchte, das Leben ist ein bisschen komplizierter.«
»Dasselbe könnte Kristen zu mir sagen.«
Wieder schwiegen sie eine Weile und beobachteten, wie ein kleines Schiff aus dem Hafen hinausgeschleppt wurde.
»Ich finde es schrecklich, eine Witwe zu sein, Gene«, sagte Claudie unvermittelt. »Vor allem möchte ich keine Witwe in Whitby sein.«
»Klingt wie der Titel eines Musicals: Eine Witwe in Whitby« ,sagte er, worüber sie lächeln musste. »Ich habe sogar schon die Besetzung im Kopf«, fuhr er grinsend fort und streckte eine Hand aus, als könnte er tatsächlich draußen auf dem grauen Meer die Stars sehen. »Judy Garland. Ich, natürlich.« Er zwinkerte ihr verschmitzt zu. »Wen hättest du noch gerne dabei?«
»Luke?«
Gene schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir Leid, Claudie.«
»Nein«, sagte sie, »du hast Recht. Er wäre eine katastrophale Besetzung. Er hatte eine Stimme wie ein verstopftes Abwasserrohr.« Claudies Kinn begann zu zittern, und die Tränen, die sie, so lange es ging, vor ihrem Idol verborgen hatte, begannen zu laufen. »Verzeihung«, flüsterte sie, während Whitby vor ihren Augen verschwamm.
»Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen«, sagte Gene.
»Normalerweise wäre ich heute gar nicht hier, sondern im Büro. Aber mein Chef war der Meinung, ich bräuchte ein paar Tage Urlaub. So was Lächerliches!«, rief Claudie, nahm ein Taschentuch aus ihrer Tasche und putzte sich die Nase. »Es geht mir ausgezeichnet! «
»Du bist eine tolle Frau, Claudie, aber ich denke, dein Chef hat Recht.«
»Wirklich?« Claudie wischte sich die Tränen fort und schaute Gene an.
Er nickte.
»Dachte ich mir, dass du das sagen würdest. If you can’t be glad and merry, lock yourself in solitary. Hast du das nicht damals für Jerry die Maus in Urlaub in Hollywood gesungen?«
»Du kennst wohl alle meine Filme auswendig, was?«
Claudie schnäuzte sich wieder die Nase. »Ich will nicht allein sein. Wenn ich allein bin, fühle ich mich so –« Verzweifelt rang sie die Hände.
»Einsam?«
Sie lächelte gequält. »Ja.«
»Manchmal muss man sich ein wenig Zeit für sich selbst nehmen. Nur so kann man sich wieder im großen Zusammenhang sehen.« Er holte tief Luft. »Du bist eine großartige Frau, Claudie, und du wirst das schon schaffen. Du musst dir nur ein bisschen Zeit lassen.«
Claudie schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, war er verschwunden. Sie fühlte sich so einsam wie noch nie, und sie fröstelte, als sie aufstand. Es hatte keinen Zweck, in der Kälte weiter herumzulaufen. Sie ging die Stufen hinunter und durch die enge Straße, die zu ihrem Haus führte. Als sie auf ihre Uhr schaute, stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass es schon nach fünf war. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie so lange auf das Meer hinausgestarrt hatte. Jetzt konnte sie bald ein Video einlegen. Auf jeden Fall würde sie sich heute einen Gene-Kelly-Film ansehen.
Als sie um die Ecke zu ihrem Haus bog, erstarrte sie. Auf der Stufe vor ihrer Haustür saß ein Mann, der Letzte, den sie, nach Gene Kelly, in Whitby zu sehen erwartet hätte.
»Hallo Claudie«, sagte er. Dieses Grinsen würde sie mit verbundenen Augen erkennen. Es war Lukes jüngerer Bruder Daniel.
Nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, war es ihr gelungen, ihren Hausschlüssel zu finden, die Tür aufzuschließen
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