Unter dem Baum des Vergessens -: Ein Leben in Afrika (German Edition)
einfiel, um dem Ganzen einen Anstrich von Normalität zu geben: Sie bat um etwas zu essen. Und die Krankenschwester, nüchtern wie die meisten Afrikaner, machte meinen Eltern klar, dass sie die Wahl hatten, mit Vanessa Mittag essen zu gehen oder ihrem Sohn beim Sterben zuzuschauen. »Er hatte Meningitis«, sagt Mum. »Und es war nichts mehr zu machen.«
Es folgt ein langes Schweigen. Ich blicke hinaus auf die Cederberg Mountains, in der Mittagssonne zu konturlosem Grau verflacht. Unter der stärker werdenden Hitze herrscht Totenstille im Garten. Die Webervögel in der Bougainvillea haben ihren Streit beigelegt. Sogar die gewöhnlichen Kapammern sind in ihre felsigen Unterschlüpfe verschwunden. Der Wind ist vollkommen abgeflaut. Das ganze Land wirkt geduckt und schweigsam in Erwartung des halben Jahres trockener Hitze, die ihm bevorstehen. Irgendwo zwischen den Personalunterkünften kräht ein Hahn. Dad stützt den Kopf in die Hände.
Mum bricht schließlich das Schweigen. »Ich weiß noch, wie ich aus dem Krankenhaus kam und nicht fassen konnte, dass die Welt noch existierte«, sagt sie. »Die Palisanderbäume standen in Blüte. Salisbury sah prächtig aus. Die Blumenverkäufer bevölkerten Meikles Park, die Liebesblumen blühten, der Jasmin duftete. Und ich dachte: Weshalb sieht die Welt so normal aus? Weshalb laufen überall Menschen herum? Hat noch keiner gemerkt, dass die Welt untergegangen ist?«
Die Ärzte stellten Mum ruhig, bis ihr Schmerz so tief versunken war, dass ihn außer ihr selbst keiner mehr spürte. So wurde alles, was mit Adrians Tod zu tun hat, zu einer verheerend langwierigen Verwundung, noch Jahrzehnte später kommen Scherben des Schmerzes völlig unerwartet zum Vorschein wie Schrapnellsplitter, die erst Jahre nachdem der Soldat getroffen wurde, aus der Wunde treten. »Es gibt nichts Entsetzlicheres, als nach Hause zu kommen, ins Kinderzimmer zu gehen, und alles liegt da noch rum – die Spielsachen, die Wiege, das Lätzchen«, sagt Mum. »Etwas Schlimmeres kann einem nicht passieren. Du musst dich zusammenreißen, hab ich mir gesagt. Und ich hab getan, was ich konnte, um mit meinem Leben weiterzumachen.«
Dann schüttelt Mum den Kopf. »Nein«, sagt sie. »Nein, das stimmt nicht. Ich habe nicht mit meinem Leben weitergemacht. Das konnte ich gar nicht. Vanessa hat ständig gefragt: ›Wo ist das Baby? Wo ist Adrian?‹ Es sagt einem keiner, wie man mit einer solchen Situation fertigwird, und ich bin sehr schlecht damit fertiggeworden. Ich hielt es nicht aus. Ich habe Cherry gebeten, sich ein paar Tage um Vanessa zu kümmern, und immer mehr von diesen verfluchten Tranquilizern geschluckt und mich in das dunkle Zimmer gelegt und mir die Decke über den Kopf gezogen. Ich wollte nichts hören und nichts sehen. Ich wollte aufhören. Einfach aufhören zu sein.«
Drei Tage nach Adrians Tod gab Dad bei einem der indischen Schneider im Zweiter-Klasse-Distrikt einen halben Monatslohn für einen Anzug aus. Dann fuhr er ins Kinderkrankenhaus, holte die kleine Urne ab und trug Adrians Asche auf dem Warren-Hills-Friedhof im Süden Salisburys zu Grabe.
»Ganz allein?«, frage ich.
Dads Augen drohten sich mit Tränen zu füllen. »Na ja, es war nicht gerade ein Anlass, für den man Einladungen rausschickt.«
Nachdem Adrians Asche in der Mauer eingeschlossen war, fiel der erste Regen des Jahres. Um die Füße meines Vaters bildeten sich Pfützen auf der knochenharten Erde. Das Wasser lief ihm am Gesicht herab. Der Anzug aus dem Zweiter-Klasse-Distrikt lief ein, die Ärmel krochen an den Unterarmen hinauf, die Hosenbeine zogen sich bis an die Waden zurück, dunkelblauer Farbstoff floss auf die rote Erde. Dad stand da und speicherte das alles in seinem Gedächtnis: die langgliedrigen Fliederbüsche, die gescheckten Krähen, den kalten Regen auf heißer Erde, das schmale, einsame Grab.
Vor ein paar Jahren sind meine Eltern noch einmal hingefahren, haben nach dem Bronzeschild mit dem Namen meines Bruders gesucht, aber zusammen mit allem anderen, das auf diesem Friedhof noch irgendeinen Wert hatte, war das Schild abgerissen, eingeschmolzen und verkauft oder für etwas anderes verwendet worden. Ich hatte immer geglaubt, Adrian sei anonym begraben worden, aber es war mehr als das: Sein Grab war nachträglich unkenntlich gemacht worden. In dieser Hinsicht könnte Adrian afrikanischer nicht sein: Als Opfer der Umstände liegt er anonym in dieser schönen blutigen Erde, ohne dass ein Datum an seine Geburt oder
Weitere Kostenlose Bücher