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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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hinlegen können. O nein, es gibt auf der ganzen Welt nichts Schöneres als einen Wassergraben im Abendsonnenschein. Weil es hier still stehendes Wasser gibt, verstehst du. Nichts, aber auch wirklich gar nichts kommt dem gleich, die schönsten Berge nicht, die größten Wüsten nicht. Wenn man hier in Maasland über den Doelpad geht, hat man, wenn man am Ende angekommen ist, exakt zwei Kilometer still stehendes Wasser hinter sich, das genau in der Fluchtlinie der untergehenden Sonne liegt. Zwei Kilometer still stehendes Wasser! Versuch das mal in Australien zu finden! Im Jahr, bevor ich zurückgekommen bin, habe ich so intensiv von grünen Fröschen geträumt, dass sie nach dem Aufwachen noch eine Viertelstunde lang weitergequakt haben.«
    »Du bist da unten auf jeden Fall gesprächiger geworden«, sagte ich.
    »Vor Heimweh«, sagte er, »einzig und allein vor Heimweh. Ich musste reden, ich wollte ja meine Muttersprache nicht verlernen.«
    »Hast du in Australien denn Niederländisch gesprochen?«
    »Komm, setz dich«, forderte er mich auf, »und sag nichts mehr.«
    Wir saßen im Gras. Manchmal kräuselte ein Windstoß die Wasseroberfläche. Es war, als hörten wir die Wolken vorüberziehen. Der Wind legte sich, die Sonne ging unter. Wenn man den Graben entlang in Richtung Sonne schaute, sah man ein einziges langes Feuerband. Ein wenig Dampf stieg aus dem brennenden Wasser auf.
    »Schau, schau«, sagte Jan, »darauf habe ich die ganze Zeit gewartet.«
    Es war, als würde das Sonnenlicht aus dem Wasser emporsteigen und auf dem Weideland eine Stelle suchen, um sich dort niederzulassen. Auf der anderen Seite des Grabens leuchtete auf halber Höhe des schrägen Ufers ein schmaler, heller Lichtstreif auf. Es war ein leuchtendes Seidenband, ein Gürtel aus Licht, etwa fünfzig Zentimeter über der Wasseroberfläche. Gleich unter dem Lichtgürtel sahen wir kleine, sich bewegende Flecken näher kommen. Ein unsichtbares Wesen schritt über das Wasser, das dennoch einen Schatten warf. Wir saßen da. Es war, als bliebe die Zeit stehen, als würde der helle, manchmal undeutlich werdende und dann plötzlich mit nie zuvor da gewesener Intensität aufglühende Lichtstreifen sich als ein Lasso entpuppen, das uns liebevoll einfing und uns fortführte in ein ländliches Idyll, zu einem ewig währenden Schlaf.

Der Sammler
    Bei Tisch las mein Vater aus der Schrift: »Und weiter sah ich Gottlose, die begraben wurden und zur Ruhe kamen; aber die recht getan hatten, mussten hinweg von heiliger Stätte und wurden vergessen in der Stadt. Das ist …«
    Es klingelte, und meine Mutter sagte: »Da ist er wieder.«
    Er kam immer während des Essens, war allerdings noch nie bei der Lesung eines derart passenden Textes erschienen.
    »Mach mal die Tür auf«, sagte meine Mutter.
    An die Bibelstelle denkend, die wie für ihn geschrieben schien, öffnete ich die Haustür. Da stand er. Er trug einen langen schwarzen Mantel und einen riesigen schneeweißen Schal, der zweimal um seinen Nacken geschlungen war und trotzdem noch an zwei langen Enden frei hing. Eins davon baumelte weit über seinen Rücken, das andere Ende hatte er unter den Mantel gesteckt, wobei sich bei jedem Knopf ein bisschen Weiß nach draußen wölbte. Im Flur zog er seinen Mantel aus. Er wickelte den Schal ab, und man hätte meinen können, es handele sich dabei um einen großen Verband. Und dann kam der Moment, vor dem ich mich schon gefürchtet hatte, als ich zur Tür gegangen war: Er gab mir die Hand. Er hatte eine sehr lange, sehr weiße Hand mit Fingern, die bei jeder Bewegung knackten. Gab er einem die Hand, dann war es, als wollten seine Knöchel die deinigen zerquetschen. Aber man entging dem nicht, man musste die freudig dargebotene Hand wohl oder übel drücken. In der Wohnstube gab er auch meinem Vater, meiner Mutter, meiner Schwester und sogar meinem kleinen Bruder, der noch im Kinderstuhl saß, die Hand. Er gehörte zu jenem gruseligen Menschenschlag – den Handschüttlern –, dem ich erst später zu misstrauen gelernt habe.
    Als er Platz nahm, sagte mein Vater: »Ich hatte gerade mit der Bibellesung angefangen. Die würde ich gern kurz zu Ende bringen.«
    »Oh, ja, gewiss«, sagte er zuvorkommend, »lies bitte weiter; nichts ist schöner als der alte, ehrwürdige Brauch, die Mahlzeit mit einem halben Kapitel zu beenden.«
    Mit großem Nachdruck las mein Vater: »Und weiter sah ich Gottlose, die begraben wurden von denen, die aus einem anderen Ort kamen und deren

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