Unter dem Deich
Herz der Menschenkinder in ihnen voll ist, um Böses zu tun.«
Beinahe hätte ich gesagt: »Das steht da nicht.« Dann wurde mir klar, dass mein Vater den Text für Hellenbroek angepasst hatte. Er musste gar nicht viel verändern.
Triumphierend las er: »Aber dem Gottlosen wird es nicht wohl gehen, und wie ein Schatten werden nicht lange leben, die sich vor Gott nicht fürchten.«
Hellenbroek lauschte andächtig. Es saß totenstill da, nicht einmal seine weißen Fingerknöchel bewegten sich. Während mein Vater weiterlas, das ganze achte Kapitel, und auch noch mit dem neunten begann, rechnete ich in Gedanken: »Die Stadt hat 10 000 Einwohner. Es gibt 3000 Reformierte, 3000 Orthodox-Reformierte, 1000 Christlich-Reformierte, 240 katholische Familien und 750 Andersgläubige, also … also … ja, es stimmt wirklich, es bleiben noch rund 2000 Ungläubige übrig, und die müssen auch begraben werden, und darum hat ein großer Beerdigungsunternehmer aus Rotterdam bei uns eine Filiale eröffnet.«
Schon öfter hatte ich diese Rechnung angestellt. Jedes Mal, wenn ich Hellenbroek die Hand geschüttelt hatte, musste ich die Zahlen im Kopf erneut überprüfen, um hinnehmen zu können, dass ein so kalter, gruseliger Mann einfach zu uns ins Haus kommen durfte. Vielleicht hätte ich akzeptieren können, dass er in unserer Wohnstube saß, wenn er tatsächlich nur die Ungläubigen beerdigt hätte. Aber weil er für eine große Rotterdamer Firma arbeitete und seine eigenen Träger, seinen eigenen Wagen und seine eigenen Trauerschabracken mitbrachte, konnte er einen viel niedrigeren Preis anbieten, als in unserer Stadt üblich war. Und deshalb war er nicht bloß zum Bestatter der Ungläubigen geworden, sondern nahm sich auch all derjenigen an, die, im Herrn oder nicht, unter dem Deich entschliefen.
Mein Vater las: »… dazu ist das Herz der Menschen voll Bosheit, und Torheit ist in ihrem Herzen, solange sie leben; danach müssen sie sterben.«
Hellenbroek nickte. Erstaunt sah ich, dass sein langes, spitzes Kinn bei jedem Nicken kurz seine schwarze Krawatte berührte. Das Kinn hatte eine tiefe Einkerbung, in der blauschwarze Haare wuchsen, die offenbar für den Rasierapparat außer Reichweite waren.
»Lass deine Kleider immer weiß sein und lass deinem Haupte Salbe nicht mangeln.«
Mein Vater hörte abrupt auf zu lesen. Erschrak er in Anbetracht der Vorschriften, die niemand mehr befolgte? Hellenbroek legte seine Hände so zusammen, dass seine Finger eine steile Pyramide bildeten, und sagte: »Wie gut für die Hausfrau, dass wir uns heute daran nicht mehr halten müssen. All unsere Kleider weiß! Was würde das für ein Gewasche geben!«
»Ich spreche das Gebet«, sagte mein Vater.
Hellenbroek faltete die Knöchel ineinander und schloss die Augen. Mein Vater deklamierte:
»Wir danken Dir von Herzen
für alle Speis, die wir verzehrt.
Gar mancher isst das Brot der Schmerzen,
doch Du hast uns gütigst genährt.
O gib, dass unsere Seelen nicht
am endlich Erdenleben kleben
und alles tun, was Du befiehlst,
um einst ewiglich mit Dir zu leben. Amen.«
Während er betete, öffnete ich vorsichtig die Augen. Ich sah zu Hellenbroek hinüber. Seine Augen waren geschlossen. Es sah aus, als würde er mitbeten. Ich wurde nicht schlau aus ihm. Da saß er nun, ein Begräbnisunternehmer, aus Rotterdam stammend, der sich in unserer Stadt niedergelassen hatte, um die immer größer werdende Gruppe der Nichtkirchlichen zu bestatten, und dieser Ungläubige, der fast alle Toten von unter dem Deich bekam, hatte die Hände gefaltet und die Augen geschlossen. Bei »ewiglich« schloss ich die Augen wieder, bei »Amen« öffnete ich sie und schaute geradewegs in die grauen Augen Hellenbroeks.
»Was liegt an, Hellenbroek«, sagte mein Vater.
»De Pagter ist tot«, sagte Hellenbroek, »er wird Freitagnachmittag begraben, wir würden vorher gern die Kapelle benutzen.«
»Was wird es denn?«
»Mietgrab zweiter Klasse.«
»Ein bisschen zu vornehm für de Pagter. Der hat doch in der Sandelijnstraat gewohnt! Und die zweite Klasse habe ich vorige Woche zugeschaufelt, jetzt muss ich sie wieder ausheben! Wenn ich das gewusst hätte! Ich glaube, in Zukunft lass ich die Mietgräber zweiter Klasse einfach offen.«
»Lässt du die dritte Klasse tatsächlich immer offen?«, fragte Hellenbroek.
»Ja«, sagte mein Vater, »es kommt selten vor, dass man ein Mietgrab dritter Klasse länger als eine Woche nicht braucht. Wenn man also den Ersten
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