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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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zuschaufeln.«
    »Letzteres würde ich an deiner Stelle nicht tun. Ich garantiere dir, dass nächste Woche …«
    »He, wie kannst du das garantieren? Wer von den Mamelucken ist denn alles krank?«
    »Zu viele, um sie alle aufzuzählen.«
    »Gut, ich lasse das Grab offen, aber auf deine Verantwortung.«
    Mein Vater begrub am Mittwoch eine Frau in der dritten Klasse und am Donnerstag eine andere Frau in einem Mietgrab zweiter Klasse. Beide Frauen – sie kamen von unter dem Deich – wurden von Hellenbroek bestattet. Am Samstagnachmittag musste mein Vater einen Mann im übrig gebliebenen Grab dritter Klasse beerdigen. Am Samstagmorgen ging er los, um die Bahre zum Eingang zu bringen und die Maschine auf das Grab zu legen. Als er nach Hause kam, um die rote und grüne Suppe zu essen, waren seine Augen hellgrün. Bei der Tomatensuppe polterte er los: »Da hat sich verdammt noch mal wieder jemand an meinen Wällen zu schaffen gemacht.«
    Bei der Erbsensuppe sagte er: »Wer hat da bloß seine Griffel an meinen Wällen?«
    »Vielleicht gräbt jemand den Sarg wieder aus«, sagte ich, »schaufelt das Grab anschließend wieder zu und macht neue Wälle.«
    »Mh, das könnte man beinahe meinen. Aber wieso?«, fragte mein Vater.
    »Könnten wir über etwas anderes reden?«, sagte meine Mutter.
    Eine Woche später kam mein Vater erneut mit grünen Augen nach Hause.
    »Vorhin wollte ich das Mietgrab zweiter Klasse zuschaufeln«, sagte er, »weil ich ums Verrecken nicht glaube, dass Hellenbroek diese Woche noch mit einem Toten kommt. Soweit ich weiß, ist unter dem Deich niemand ernsthaft krank, und darum nehme ich also heute den Deckel vom Grab, und tatsächlich … was sehe ich?«
    »Die Wälle«, sage ich.
    »Genau«, erwidert mein Vater, »schon wieder mit der Hand geklopfte Stümperwälle.«
    Merkwürdigerweise musste sich der Vorfall noch siebenmal wiederholen, bis uns plötzlich auffiel, dass es immer Wälle betraf, die sich über einem Toten befanden, der von Hellenbroek bestattet worden war.
    »Man könnte beinahe denken«, sagte mein Vater, »dass er seine eigenen Leichen wieder ausgräbt und …«
    »Ich möchte nicht, dass bei Tisch über solche Dinge gesprochen wird«, sagte meine Mutter.
    »Womit du recht hast«, erwiderte mein Vater, »aber ich würde doch zu gerne wissen … ich werde mal mit Groeneveld darüber reden.«
    Er sprach mit dem Polizeiinspektor Groeneveld, und der sicherte ihm zusätzliche Überwachung an den Abenden und in den Nächten nach Bestattungen von Hellenbroek zu. Nach einem Monat und zwei weiteren Beerdigungen berichtete er, keiner seiner Beamten habe etwas Auffälliges beobachten können, und mein Vater sagte: »Kein Wunder, es hat sich auch niemand an meinen Wällen vergriffen.«
    Es hatte den Anschein, als müssten wir die unbegreiflichen Grabmanipulationen wieder vergessen. Monatelang sprachen wir nicht mehr darüber, ebenso wie wir nicht mehr über Hellenbroek sprachen. Er war lange Zeit in Urlaub. Für eine Beerdigung im Sommer kam ein Ersatzmann aus Rotterdam, und mein Vater sagte: »Ich wünschte, den würden sie in Zukunft immer schicken. Ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Von dem würde sogar ich mich bestatten lassen.«
    Hellenbroek kehrte jedoch zurück. Pünktlich zum Abendessen stand er wieder vor der Tür, um seine Toten anzukündigen, und immer lauschte er am Ende der Mahlzeit der Bibellesung und betete mit. Man hätte meinen können, er sei deswegen gekommen. Als wir einmal sehr früh zu Abend gegessen hatten und er vorbeikam, nachdem wir bereits mit der Lesung fertig waren, schien er tatsächlich enttäuscht. Wir begruben in den Wintermonaten fünf Leute von unter dem Deich, und nie wurde nach den Beerdigungen an den Wällen herumgestümpert.
    Anfang Juni ging ich an einem Samstagnachmittag am Zuidvliet lang. Es war warm und sonnig, in der Ferne, dort, wo Maasland beginnt, schien es diesig zu sein. Ich hatte Lust, an der Wippersmühle vorbei zum Bommeer zu gehen, und machte mich auf den Weg. Bei der Groen-van-Prinsterer-Schule rauschten die Trauerweiden. Ein Stück weiter saßen überall Angler am Ufer. Frohgemut ging ich auf dem schmalen Weg zur Stadt hinaus. Ich fand, dass es zum Angeln zu windig war, doch es waren die ersten Junitage, und die Angelsaison hatte gerade begonnen. Auf Höhe der Wippersmühle sah ich Hellenbroek auf einem Hocker sitzen. Andächtig starrte er auf seinen Schwimmer. Ich ging an ihm vorüber. Er hatte mir den Rücken zugewandt und sah

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