Unter dem Deich
meinen können, er sei der Nachfolger von Hellenbroek und komme, um ein Begräbnis anzukündigen.
»Mein Name ist Smytegelt«, sagte er. »Ich habe heute Nachmittag zufällig in Ihr Haus geschaut und im Wohnzimmer eine hübsche Kommode stehen sehen.«
»Die ist nicht zu verkaufen«, sagte mein Vater.
»Fünfzig Gulden«, sagte Smytegelt.
»Nie und nimmer«, sagte mein Vater.
»Fünfundsiebzig«, sagte Smytegelt.
»Keine Chance.«
»Einhundert.«
Ich hielt den Atem an. Einhundert Gulden! Das war mehr, als mein Vater in einer Woche verdiente! Die riesige Summe schien ihm einen Schreck einzujagen. Dann sagte er: »Nein, nein, nein, die Kommode stammt noch von meiner Mutter, und die wiederum hat sie von Onkel Pau vom Treidelpfad, und der hat sie van Jans van Piet und Leentje geerbt. Ich verkaufe die Kommode nicht.«
»Tja, schade«, sagte Smytegelt.
Anders als Hellenbroek wartete er die Bibellesung nicht ab. Er ging sofort wieder. Anderthalb Stunden später klingelte er erneut.
»Einhundertfünfzig Gulden«, sagte er.
Sein schmales Gesicht war leicht gerötet. Sein Haar war zerzaust. Seine Augen blutunterlaufen. Lange sah mein Vater ihn an. Nach einer Minute flüsterte mein Vater: »Zweihundertfünfzig Gulden.«
»Einhundertfünfzig«, sagte Smytegelt.
Mein Vater schüttelte den Kopf.
»Nicht für weniger als zweihundertfünfzig«, sagte er. »Pau Vreugdenhil hat sie bei seinem Umzug noch gesondert transportiert, um sie auch ja nicht zu beschädigen. Nein, für weniger geht’s wirklich nicht.«
»Einhundertfünfundsiebzig«, sagte Smytegelt.
»Zweihundertfünfundzwanzig«, sagte mein Vater.
Sie sahen einander lange an. Ein Augenlid Smytegelts zitterte.
»Zweihundert«, sagten beide im selben Moment.
Smytegelt eilte ins Wohnzimmer. Er zog die oberste Lade aus der Kommode und fing an, deren Inhalt in rasendem Tempo auf einen Stuhl zu werfen. Es schien fast, als fürchtete er, mein Vater könne den Verkauf wieder rückgängig machen. Er leerte drei Schrankschubladen, ehe wir dazu auch nur etwas hatten sagen können. Wir saßen vollkommen verdutzt da und betrachteten die langen, weißen Finger, die unsere Sachen vollkommen achtlos aus den Schubladen grapschten. Anschließend trug er eine Schublade nach der anderen vorsichtig in den Flur. Und zuletzt folgte die eigentliche Kommode. Als alles im Flur stand, öffnete er die Haustür.
Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, sehe ich ihn noch heute im Licht der Gaslaterne, die drei Häuser weiter an einer Mauer befestigt ist. Er steht nur so herum, die Kommode mit nun wieder hineingeschobenen Laden neben sich auf dem Bürgersteig. Er wagt es offenbar nicht wegzugehen. Wegtragen kann er das schwere Möbelstück nicht. Hat er etwa nicht damit gerechnet, dass wir sie verkaufen würden? Es fallen kaum sichtbare Schneeflöckchen. Er zieht seinen Mantel aus und drapiert ihn über die Kommode. Mit beiden Händen hält er seinen Kauf fest. Die Schneeflocken werden größer. Warum fragt er nicht einfach, ob er die Kommode für eine Weile wieder zurück in den Flur stellen darf? Fürchtet er, dass wir sie dann zurück ins Wohnzimmer tragen und ihm die zweihundert Gulden zurückgeben könnten?
Währenddessen weiß meine Mutter nicht, wo sie den Inhalt der drei Schubladen unterbringen soll. Unentschlossen geht sie hin und her. Es ist, als würde sie nie einen Platz für all die Handtücher, Geschirrtücher und Laken finden, solange Smytegelt noch draußen auf der Straße steht, unsere Kommode mit seinem Mantel und seinem Körper beschützend.
Nach mindestens einer Stunde erscheint einer seiner Söhne mit einem Handkarren in der Straße. Woher hat er gewusst, dass sein Vater hier wartet? Oder hat er es nicht gewusst? Hat der Sohn sich einfach auf gut Glück und mit einem Handkarren ausgerüstet auf die Suche nach seinem Vater begeben? Ist er durch sämtliche Straßen unter dem Deich geirrt? Vater und Sohn laden die Kommode auf den Handkarren, die Kommode, die ich ein paar Jahre später in einem Laden auf der Lijnbaan in Rotterdam wiedersehen würde, mit einem Kärtchen daran, auf dem steht: »Kommode mit geschwungener Front, Nussbaum, ländliche Herkunft, ca. 1760. Preis: 2000,– Gulden.«
Altersversorgung
Es war die Zeit, in welcher der Mädchenchor Sweet Sixtien von einer »Zeit, die es nicht mehr gibt« sang. Es war eine Zeit, in der ein Schiff nach dem anderen bei Hoek van Holland auf den Noorderpier lief. Einmal lief sogar ein Schiff, die »Gatt«, auf den
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