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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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herumgruppierenden Miniaturhäuser lag, ganz nah beim Wohnzimmerfenster, Siem Vastenau zwischen grauen Laken und wartete auf den Tod. Er war, gleich nach dem Krieg, als Soldat nach Indonesien verschifft und nach einer der »polizeilichen Aktionen« verletzt wieder nach Hause in den Lijndraaierssteeg gebracht worden. Was ihm genau fehlte, wusste niemand. Er lag einfach nur da, weißer und durchscheinender als die Laken, zwischen denen er schlief. War er vergiftet worden? Verhext? Verzaubert? Er lag schon dort, als ich im April 1951 das erste Mal zur Schule ging. Mir standen zwei Routen zur Verfügung, auf denen ich zur Schule gehen konnte. Entweder durch die Nieuwstraat und über den Markt oder durch die Hoekerstraat, den Lijndraaierssteeg und dann über die Nauwe Koestraat, die Schaapslop genannt wurde. Die letzte Strecke, nah an der gefährlichen Sandelijnstraat entlang, war etwas länger und sehr viel Furcht einflößender und daher auch die attraktivere. Meistens ging ich trotzdem über den Markt, weil ich mich nicht durch den Lijndraaierssteeg traute. Dort ging nämlich Siem Vastenaus Bruder mit trägem Schritt von Vliet zu Vliet und sprach jeden an, der vorbeikam.
    »Statte doch meinem sterbenden Bruder mal einen Besuch ab.«
    Noch heute höre ich seine sanfte, heisere Stimme flüstern: »Mein Bruder ist krank, sehr krank. Er wird sterben. Er würde sich sehr, sehr freuen, wenn du ihn kurz besuchen würdest.«
    Noch heute rieche ich seinen stinkenden Atem. Noch heute sehe ich die freundlichen, ruhigen und dennoch matten, nebelgrauen Augen hinter den goldumrandeten Brillengläsern. Und ich weiß, dass es mir all die Male, die er mich dort im Baanslop angesprochen hat, nicht ein einziges Mal gelungen ist, mich der Magie dieser überaus freundlichen, trägen, schleppenden, heiseren Stimme zu entziehen. Jedes Mal bin ich ihm zum Krankenbett seines Bruders gefolgt, der selbst nie etwas zu mir sagte oder mich auch nur ansah. Ich stand bloß da, und Hugo sagte: »Siem, Besuch für dich.«
    »Vielen Dank.«
    »Siehst du, wie krank mein Bruder ist?«, fragte Hugo mich dann.
    »Ja«, erwiderte ich.
    »Siehst du, dass er auf der Schwelle zur Ewigkeit steht?«
    Ich schaute zu den Laken, die offenbar nie in einer der Maschinen von van Heyst gewaschen wurden, und sagte: »Ja.«
    »Wir dürfen nicht zu lange bleiben«, sagte Hugo, »das wäre für meinen Bruder zu anstrengend.«
    Ich nickte.
    »Aber er freut sich immer, wenn Kinder kommen. Nicht wahr, Siem?«
    »Und ob«, sagte Siem mit geschlossenen Augen.
    »Sollen wir wieder gehen, Siem?«
    »Bleibt nur noch einen Moment.«
    »Ist gut. Da siehst du, wie krank mein Bruder ist. Er ist sterbenskrank, nicht wahr, Siem?«
    Siem Vastenau nickte.
    »Dann gehen wir jetzt wieder«, sagte Hugo.
    Wir verließen die kleine Querstraße. Bis zum Noordvliet begleitete Hugo mich.
    »Siem kommt in den Himmel, denkst du nicht auch?«
    »Bestimmt«, erwiderte ich.
    Beim Abschied am Noordvliet fragte er mich: »Schaust du bald mal wieder vorbei?«
    »Ja.«
    »Nicht vergessen«, sagte er, »Siem kann schon gestorben sein, wenn du das nächste Mal zur Schule gehst. Nicht mehr lange, und er verlässt uns, und dann habe ich keinen Bruder mehr. Was soll dann aus mir werden? Schließlich bin ich nicht ganz richtig im Kopf. Das weißt du doch?«
    »Ja.«
    »Vielleicht kann ich bei euch wohnen?«
    »Bei uns zu Hause ist es ziemlich eng.«
    »Ach, schade, wirklich schade. Aber wo soll ich bloß hin, wenn Siem tot ist? Kommst du bald wieder?«
    »Ja«, log ich.
    Immer wenn ich an Siems Krankenbett gestanden und ein paarmal Ja gesagt hatte, mied ich den Lijndraaierssteeg mindestens drei Monate lang.
    Manchmal ging ich auf der Südseite des Zuidvliet entlang und schaute, das sichere Wasser zwischen mir und dem Baanslop, zum Lijndraaierssteeg hinüber. Dann sah ich Hugo dort eigenartig schlurfenden Schrittes von Vliet zu Vliet gehen und dabei Passanten ansprechen. Ich fragte mich, wie es kam, dass andere, auch Kinder, ihn so leicht abzuschütteln vermochten. Einmal beobachtete ich, wie er Pleun Onderwater ansprach. Mit seinem Spazierstock schlug Pleun zweimal blitzschnell gegen Hugos Waden. Einmal sah ich auch, wie Huibje Koppenol, die zweifellos auf dem Weg zu einem Kranken im Reformierten Altersheim in der Rusthuisstraat war, ihm nur das Wort »Betrüger« entgegenwarf und dann entschlossen weiterging mit einem ganz offensichtlich nicht für Siem Vastenau bestimmten Netz Mandarinen.
    Wenn ich nach

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