Unter dem Deich
Wohnstube eine Ziege herum, die immer Tapetenstücke von der Wand riss, um sie anschließend mit einem verträumten Blick in den Augen aufzufressen. Die Frau, irgendwann einmal auf den Namen Huibje Koppenol getauft, wurde von allen Miss Miezekatze genannt und gemieden. Nicht weil sie mit Schüsselchen voll Milch für streunende Katzen herumlief, sondern weil sie über die ebenso geheimnisvolle wie Angst einjagende Fähigkeit verfügte, den Tod vorauszuahnen. Wer unter dem Deich krank wurde und sie auf der Straße erscheinen sah, der konnte, so gutartig die leichte Grippe auch zu sein schien, alle Hoffnung fahren lassen. Mit dem noch aus ihrer Zeit bei der Heilsarmee stammenden Hütchen auf dem Kopf und ihrem schwarzen Mantel, dessen Futter lose war, schlurfte sie in schwarzen Strumpfhosen und schwarzen Schuhen am Haus des Kranken vorüber. Gab es in einer Straße zwei Kranke, dann konnte man noch die Hoffnung hegen, dass sie wegen des anderen kam. Oft schien es so, als wüsste sie, wenn es zwei oder drei Kranke in einer Straße gab, selbst noch nicht so genau, wer sterben würde. Dann ging sie mit ganz kleinen Schritten und heftig schnaubend, als kündigte sich der Tod vor allem durch einen bestimmten Geruch an, von Haus zu Haus. Manchmal zögerte sie kurz vor einer Haustür. Sie konnte weitergehen, aber sie konnte sich ebenso gut auf die Zehenspitzen stellen und durch die Gardinen nach drinnen spähen. Wenn sie länger verweilte und versuchte, einen Blick auf den in einem improvisierten Bett im vorderen oder dahinter gelegenen Zimmer ruhenden Kranken zu werfen, dann wusste man, dass die Zeit gekommen war. Dann folgte bald darauf der Moment, in dem sie an der Tür klingelte und fragte, ob sie den Kranken besuchen dürfe. Wer sie nicht ins Haus ließ, konnte davon ausgehen, dass sie zwei Stunden später erneut klingeln und, mit ihrem Kindergesicht zu einem aufschauend, fragen würde: »Darf ich einen Krankenbesuch abstatten?« Dann hob sie, um zu beweisen, wie gut gemeint ihre Bitte war, ein Netz Mandarinen in die Höhe. Manchmal, und das war noch viel beängstigender, klingelte sie auch bei kerngesunden Leuten. Wie zum Beispiel bei Henk Lievaart. Zwei Tage später wurde er in der Seilerei von einem Treibriemen erfasst. Sie klingelte auch bei Cor Kick. Am Tag drauf kam er mit seiner Krawatte in eine Nagelmaschine. An einem Samstagnachmittag erschien sie bei Familie Tuytel. Am Sonntagmorgen wurde der achtjährige Hans Tuytel, als er hinter dem Stort heimlich das Gleis überquerte, vom Rheingold-Express überrollt.
Wenn eine ihrer Katzen weggelaufen war, klingelte sie überall, um nach dem verschwundenen Tier zu fragen. Dadurch jagte sie vor allem denjenigen einen Todesschreck ein, die sie durch den Spion schon hatten kommen sehen. Oft hörte man die Leute beim Wasserheizer sagen: »Nein, nein, sie ist nur wegen einer Katze gekommen.«
»Oh, Mann, da hattest du aber Glück.«
Die wenigen Leute im Viertel, die selbst Katzen hatten, gaben ihr, wenn sie klingelte, um nach einem verschwundenen Tier zu fragen, gleichsam als Sühneopfer hastig eine kleine Katze mit, die eigentlich noch bei ihrer Mutter hätte bleiben müssen. Die Winzlinge wurden freudig angenommen.
Über dem Deich war sie nie unterwegs. War sie schon zu alt, um die Breede Trappen hinaufzusteigen? Zu kurzatmig, um den steilen Hang bei der Wip noch hinaufgehen zu können? Oder ahnte sie nur den Tod der Sluiser voraus, die im Sanierungsgebiet wohnten? Wir wussten es nicht. Wir sahen sie die Vliete entlangschleichen und erschauderten.
Allerdings war sie nicht unfehlbar. Sie besuchte manchmal einen Kranken, der später wieder genas. Sie klingelte mitunter bei Leuten, ohne dass anschließend jemand aus der Familie vom Zug erfasst wurde oder in der Maas ertrank. Und es kam auch vor, dass jemand aus dem Viertel starb, ohne von ihr besucht worden zu sein. Vor allem diejenigen, die jahrelang krank im Bett lagen, wurden von ihr nicht beachtet. Offenbar durfte zwischen dem Zeitpunkt, an dem jemand bettlägerig wurde, und dem seines Hinscheidens nicht zu viel Zeit verstreichen. Zu der kleinen Gruppe der langfristig Kranken, die sie nie besuchte, gehörte auch Siem Vastenau aus dem Lijndraaierssteeg. Diese Gasse, im Volksmund Baanslop genannt, führte zwischen winzigen Häusern hindurch und verband den Noordvliet mit dem Zuidvliet. Mitten in dieser Gasse gab es noch eine Querstraße, eigentlich eher eine Art kleinen Innenhof, und in einem der sich darum
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