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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Loch ins Eis.«
    Das war die Stimme meines Vaters. Am besten, ich kam ihm gar nicht erst unter die Augen. Garantiert würde er mich dann nach Hause schicken. Ich konnte ihn, ungeachtet des dicken Feuerwehroveralls, an seinem hinkenden Gang erkennen. Obwohl er einem anderen den Befehl gegeben hatte, ein Loch ins Eis zu schlagen, ging er selbst zum Zuidvliet. Kurze Zeit später hörte ich die donnernden Schläge, mit denen er versuchte, das Eis zu spalten. Welch ein Geräusch in der ansonsten todstillen Winternacht! Als hätte man damit begonnen, die Häuser rings um die Vliete abzureißen. Auch in den Noordvliet schlug jemand mit einem Beil ein Loch. Ich lief über all die ausgerollten Feuerwehrschläuche hinweg in den Lijndraaierssteeg, konnte aber nirgends ein Feuer oder auch nur ein Flämmchen entdecken. Unter den Dachziegeln eines Häuschens quoll Rauch hervor, doch in der Bäckerei darunter war nichts Auffälliges zu sehen. Erst als der zum Zuidvliet hin ausgerollte Feuerwehrschlauch sich zu winden begann, schoss eine Flamme aus einem der Dachziegel.
    »Wasser!«, rief Brijs.
    Dann tanzte der Verteiler. Jemand drehte den Hahn auf, und die drei angeschlossenen Schläuche begannen ebenfalls sich zu winden.
    »Rohr eins Wasser«, rief eine Stimme.
    Zwei Männer nahmen das Strahlrohr, hoben es in die Höhe, in Richtung des lautlos und senkrecht aufsteigenden Rauchs, und ein Mann weiter vorne zog einen Hebel auf sich zu.
    »Rohr zwei Wasser.«
    Erneut ergriffen zwei Männer ein Strahlrohr.
    »Rohr drei Wasser.«
    Das Wasser kam als Wasser aus den drei Rohren, schaffte es als Wasser noch bis zur Spitze des Dachs, floss auch als Wasser noch über die Ziegel, gelangte dann aber nicht mehr als Wasser in die tiefer gelegene Regenrinne. Es gefror auf halbem Weg, schien auf dem Dach einfach zu erstarren. Über das geronnene Wasser floss neues hinweg, um gleich ebenso zu gefrieren. Es sah so aus, als schmiegte sich das neue Wasser an das schon gefrorene an. Erstaunlich schnell vergrößerte sich die hubbelige, wie reglose Wellen aussehende Eisschicht auf dem Dach. Dann erreichte das gefrorene Wasser schließlich doch noch die Regenrinne. Sehr bald war sie voll, und das neue Wasser schwappte über den Regenrinnenrand, um dann blitzartig zu gefrieren. Das war ein wunderschöner, unvergesslicher Anblick. Vom Regenrinnenrand aus bewegten sich langsam riesige, immer dicker werdende Eiszapfen wie sich hervorstülpende Fangarme in Richtung Boden, und schließlich erreichten sie tatsächlich die Erde. Es war, als würden Säulen errichtet, allerdings von oben nach unten. Wo die Säulen den Boden berührten, entstand um sie herum eine immer größer werdende kreisförmige Eisschicht. Es war, als kröche diese Eisschicht über das Straßenpflaster hinweg auf mich zu. Immer wieder wich ich einen Schritt zurück, bis ich auf der anderen Straßenseite an eine Hauswand stieß. Daraufhin trippelte ich an der Hauswand entlang zum Noordvliet, die weiter anwachsende Eisschicht nicht aus den Augen lassend. Und immer noch war kein Feuer zu sehen, nur ab und zu eine Flamme, die unter einem Dachziegel hervorloderte.
    »Sapperlot, die ganze Scheiße gefriert«, hörte ich jemanden rufen.
    »Hol die Wasserkanone.«
    Auf dem Dach der Bäckerei schwoll die Eisschicht weiter an. Trotzdem sahen wir immer noch Rauch aus dem First aufsteigen.
    »Leute, holt in Gottes Namen die Wasserkanone.«
    Zwei Männer rannten an dem Verteiler vorbei, rutschten gleichzeitig auf dem Eis aus, das nun die ganze Straße bedeckte, und versuchten, sich an der Uniform des jeweils anderen festzuhalten. Ich hörte ihre Helme mit einem trocken platzendem Geräusch gegeneinanderschlagen. Sie stürzten. Das Löschwasser erreichte die beiden und klebte sie ans Straßenpflaster. Um wieder aufstehen zu können, mussten sie aus ihren Uniformjacken schlüpfen. Während ich die Männer beobachtete, sah ich, dass der Verteiler leckte und das herausfließende Wasser umgehend gefror, wodurch das ganze Gebilde sowohl in die Höhe gehoben als auch vom Eis ummantelt wurde. Dann ertönte plötzlich ein donnernder Knall, und das Dach der Bäckerei, das ganz offensichtlich das Gewicht des auf ihm lastenden Eises nicht mehr tragen konnte, stürzte mit einem lauten Seufzer in sich zusammen. Das war der Augenblick, in dem es uns vergönnt war, echte Flammen zu erblicken, Flammen, die das tiefblaue Eis erleuchteten und ein wenig auftauten. Allerdings war das entstehende Tauwasser nicht in der Lage,

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