Unter dem Deich
Monaten wieder genug Mut gefasst hatte, um auf der Angstroute zur Schule zu gehen, nahm ich mir mit in den Hosentaschen geballten Fäusten vor, diesmal an Hugo Vastenau vorbeizugehen und ihn nicht zu beachten. Und wenn er dann aber nicht von Vliet zu Vliet schlurfte, dann war ich beinahe enttäuscht. Und wenn er, was in den sechs Schuljahren zweimal vorgekommen ist, gar mit jemand anderem bei seinem Bruder am Wohnzimmerfenster stand, dann verspürte ich einen seltsamen schneidenden Schmerz im Inneren, der dem Schmerz sehr ähnlich war, den ich empfand, wenn ich an der Grote Kerk vorbeiging, die Orgel hörte und mir bewusst machte, dass ich nicht derjenige war, der dort an den Manualen saß.
Wenn Hugo mich jedoch ansprach, dann schrumpfte mein Herz, und ich wollte wegrennen. Ich ging dennoch brav mit ihm mit.
»Ich bin nicht ganz bei Verstand«, sagte er. »Mein Bruder ist ganz bei Verstand und muss sterben. Warum? Warum können wir nicht tauschen?«
Ich stand wieder beim gekippten Wohnzimmerfenster. Über uns zogen graue Regenwolken in Richtung Maasland.
»Siem, ich hab Besuch für dich.«
»Heute lieber nicht«, sagte Siem, »frag den Besuch doch, ob er morgen wiederkommen will.«
»Kommst du morgen?«, wandte Hugo sich an mich.
»Ja«, erwiderte ich.
Wir gingen zur Gasse hinaus und gelangten an das dunkle Wasser des Noordvliet.
»Bist du gut in der Schule?«, fragte Hugo.
»Ziemlich«, sagte ich.
»Willst du dann nicht Arzt werden? Dann könntest du Siem heilen.«
»Ja«, sagte ich.
»Prima«, sagte er, »denn weißt du, ich kann nicht Arzt werden, ich bin nicht ganz bei Verstand, ich bin nicht richtig im Kopf, ich habe nicht mehr Verstand als ein fünfjähriges Kind. Sollen wir zusammen ein Lied singen? Kennst du ein Lied?«
»Äh … Nach einer Prüfung kurzer Tage … kennst du das?«, fragte ich ihn.
»Die Lieder, die ich nicht kenne, die werden nicht gesungen«, sagte Hugo.
Ganz in der Nähe des gemauerten Vlietufers sangen wir:
Nach einer Prüfung kurzer Tage
Erwartet uns die Ewigkeit.
Dort, dort verwandelt sich die Klage
In göttliche Zufriedenheit.
Hier übt die Tugend ihren Fleiß;
Und jene Welt reicht ihr den Preis.
Es ärgerte mich, dass Hugo ein wenig schief sang, aber weil ich wusste, dass Singen schon im Voraus gegen die seltsame, erstickende Angst half, die sich einstellen würde, sobald ich in der Schulbank saß, versuchte ich Hugos Stimme laut zu übertönen und sang:
Wahr ist’s, der Fromme schmeckt auf Erden
Schon manchen sel’gen Augenblick;
Doch alle Freuden, die ihm werden,
Sind ihm ein unvollkommnes Glück.
Er bleibt ein Mensch, und seine Ruh
Nimmt in der Seele ab und zu.
»Ich krieg dort oben meinen vollen Verstand wieder«, sagte Hugo. »Das wird vielleicht ein Fest. Dann werde ich Reifen flicken. Dann werde ich Fahrradmonteur.«
Solange der Kalte Krieg währte, lag Siem Vastenau zwischen schlecht gewaschenen Laken, und Hugo Vastenau ging von Vliet zu Vliet, um Besucher für seinen kranken Bruder zu werben. In all den Jahren bekam Siem nicht einmal von Huibje Koppenol Besuch, obwohl sie, auf dem Weg zur Raadhuisstraat, oft genug durch die Gasse schlurfte. Am selben Tag jedoch, an dem auch die Flügel der Mühle De Hoop abfielen, ging sie mit einem Netz Mandarinen in den Lijndraaierssteeg, und ein innig zufriedener Hugo empfing sie am auf Kipp stehenden Wohnzimmerfenster.
Zwei Tage später sagte mein Vater bei Tisch: »Samstag Begräbnis.«
»Wer?«, fragte meine Mutter.
»Vastenau.«
»Hat dreizehn Jahre krank im Bett gelegen«, sagte ich.
»Nein«, sagte mein Vater, »nicht der, sein Bruder.«
»Sein Bruder?«, fragte ich erstaunt.
»Ja, Hugo. Ist ganz plötzlich gestorben, als er gerade jemanden ansprechen wollte, doch bitte seinen Bruder zu besuchen.«
Ein paar Wochen später ging ich über den Dijk. Ich schaute über die Wip hinab. Da sah ich, verblüffter bin ich nie davor und auch danach in meinem Leben nicht gewesen, Siem Vastenau in sorgfältig geputzten schwarz glänzenden Schuhen und mit kräftigen Schritten die Wip raufkommen. Ich blieb stehen, er ging an mir vorüber, sah mich an, erkannte mich aber nicht. Unten an der Wip sah ich Huibje Koppenol stehen. Mit einem so weit wie möglich ausgestreckten Arm deutete sie, wie einst Jerobeam, auf Siem Vastenau. Und es schien fast, als klettere er in seinen nagelneuen Schuhen nur deshalb den Deich hinauf, um aus ihrem Einflussbereich herauszukommen.
Die Brände
»Und jetzt«, sagte Kommandant
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