Unter dem Deich
sie resolut ablehnte), führte ihr vor Augen, dass sie vom Abendmahl ausgeschlossen werde, und gab ihr schließlich zu verstehen, dass sie, sollte sie in Sünde verharren, auch aus der Gemeinde verstoßen würde.
Sie sagte nur: »Ich will mich scheiden lassen und Jan heiraten.«
»Dieser Jan gehört nicht zu unserer Kirche«, sagte ihr Pastor.
»Jan ist reformiert«, erwiderte sie.
»Ihr werdet gemeinsam zur Hölle fahren.«
»Gemeinsam?«, fragte sie.
»Ja«, sagte der Pastor.
»Dann ist es nicht schlimm.«
Demonstrativ ging sie am Sonntagmorgen mit Jan in die Grote Kerk und am Nachmittag ebenso demonstrativ in die Rehobothkerk. In den ersten Monaten saß sie neben Jan in Bänken, wo sonst niemand sitzen wollte oder aus denen die Kirchenbesucher, die dort schon saßen, flohen. Es schien sie nicht zu kümmern. Andächtig lauschte sie den Auslegungen der Heiligen Schrift.
Sie hörte, dass Piets Laden regelrecht »gestürmt« wurde und dass all die alten und neuen Kunden immer wieder Variationen des Ausdrucks »Es ist nicht zu fassen« äußerten.
Sie wurde zu einem Fall. Die Pastoren der reformierten Kirche machten zuerst nacheinander, dann alle drei zugleich einen Hausbesuch. Nach ihren Besuchen kamen sie zu dem Schluss, dass sich das Problem im Grunde recht einfach lösen lasse. Schwester Hummelman, geborene Onderwater, solle sich von Bruder Hummelman scheiden lassen und könne dann die Ehe mit Jan Kleywegt eingehen. Doch Bruder Hummelman wollte sich nicht scheiden lassen, er wollte ihr nur siebzig mal sieben Mal vergeben. Sie erfuhr, dass die orthodox-calvinistischen und reformierten Pastoren zu einer streng geheimen, notgedrungen ökumenischen Besprechung zusammengekommen waren, und sie erfuhr ungeachtet aller Geheimhaltung auch, dass bei dieser Besprechung beschlossen worden war, den Fall vorläufig den orthodox-calvinistischen Hirten zu überlassen. Es solle noch einmal versucht werden, sie dazu zu bringen, die Deichtreppe wieder hinabzusteigen. Und daher besuchten sie nach dem für sie zuständigen Pastor auch die beiden anderen orthodox-calvinistischen Prediger. Sie empfing beide ebenso zuvorkommend wie ihren eigenen Pastor und sagte, über die dampfenden Kaffeetassen hinweg, jedes Mal aufs Neue: »Ich will die Scheidung.«
Sie hörte – denn nichts bleibt jemals geheim in der Stadt –, dass die drei orthodox-calvinistischen Pastoren abwechselnd Piet besuchten und ihn bedrängten, einen Antrag auf Scheidung wegen Untreue zu stellen, doch der weigerte sich ebenso entschieden, an dieser Lösung mitzuwirken, wie sie es getan hatte, als man sie beschwor, zu Bruder Hummelman zurückzukehren. Sie hörte auch, dass die Pastoren schließlich einen Brief an ihren Ethikprofessor geschrieben hatten, an den rothaarigen Professor Schippers, den Autor des Standardwerks Die orthodox-calvinistische Sittenlehre . Ihr zuständiger Pastor zeigte ihr sein Antwortschreiben. Darin stand, sie müsse unverzüglich zu ihrem gesetzlichen Ehemann zurückkehren.
Als sie den Brief von Schippers las, dachte sie nur: »Ob der Professor wohl weiß, wie groß der Unterschied zwischen den Menschen von über dem Deich und denen von unter dem Deich ist? Hat dieser Professor Brotsuppe am Waschtag, Grütze am Mittwoch und braune Bohnen mit Sirup am Freitag gegessen? Bestimmt nicht, er ist ein Professor.« Sie zerriss die Kopie des Briefes, die der Pastor ihr dagelassen hatte. »Alles ist anders«, dachte sie, »die Wohnungseinrichtung, die Gespräche, die Tischmanieren, die Schlafgewohnheiten.« Es kam ihr so vor, als habe sie während ihrer ganzen Jugend nichts anderes gehört als immer nur Gespräche über Krankheiten und Wehwehchen, darüber, wer gestorben war und wer bald sterben würde, es kam ihr vor, als hätte sie nie andere Zimmer gesehen als total vollgestellte Stuben. Sie dachte: »Es ist so schön, wenn die Leute auch andere Bücher im Haus haben als nur die Bibel.« Sie nahm die neue, ausführliche Französischgrammatik, die Jan ihr geschenkt hatte. Langsam, als würde sie eine Lektion auswendig lernen, sagte sie: »Rue de Sandelin, Rue de Sandelin.« Später am Tag saß sie mit der Grammatik auf dem Schoß da und schaute zum gähnenden Piet hinüber. Sie dachte: »Er kann auch nichts dafür, er weiß es nicht besser, er stammt aus der Oranjestraat.« Sie war ein wenig verwirrt, wegen des Gefühls der Solidarität, das sie früher, als sie noch bei ihm gewesen war, nie empfunden hatte. Sie wollte die Welt, aus der sie
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