Unter dem Deich
hinein und fühlte sich weniger schuldig.
Als sie ihn einen Monat lang beobachtet hatte, kam es ihr so vor, als würde der Mensch nur aus Handlungen und Gebärden bestehen. Sie mochte die Art, wie er Kartoffeln schälte, sie liebte die Tanzschritte, die er manchmal machte, und am meisten liebte sie seine Heimlichkeiten – schnell mal ein bisschen Sahne vom Finger lecken, nachdem man sie geschlagen hat, schnell mal mit dem Holzlöffel die Suppe kosten, die man auf dem Herd hat. Sie liebte auch die ungeduldige Art, mit der er mehrmals pro Stunde eine Locke nach hinten strich, die vor seine Augen gefallen war.
Eines Abends – es war kurz vor Weihnachten – sah sie, wie er mit äußerster Sorgfalt ein Gericht zubereitete, mit Fleisch, Zwiebeln und Tomaten und mit einem Glas Rotwein. Als schon alles auf dem Herd stand, fiel ihm offenbar ein, dass noch etwas fehlte. Er öffnete den Küchenschrank, und sie sah, wie er aus einer Büchse irgendein Pulver über das Essen streute. Danach suchte er noch ein anderes Gewürz, fand es aber nicht. Er sah auf die Uhr.
»Jetzt denkt er bestimmt: Es ist noch vor sechs, ich flitze schnell zu Hummelman rüber und kauf es dort«, ging es ihr durch den Sinn.
Sie verließ die Küche, stieg die Treppe hinunter und betrat den Laden. Piet stellte soeben einige Dosen Katzenfutter vor Huibje Koppenol ab. Sie tat so, als suchte sie etwas. Der Nachbar von gegenüber kam in den Laden und wartete.
»Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«, fragte sie.
»Haben Sie Kümmel?«
»Ich glaube, ja«, sagte sie. War das nicht einer der Artikel, die sie zusätzlich eingekauft hatten?
Sie suchte unter den ihr unbekannten Produkten, die seltsamerweise sehr häufig nachgefragt worden waren. Ja, da war auch Kümmel. Sie stellte das Tütchen auf die Ladentheke. Er gab ihr einen Schein von zwei Gulden fünfzig. Sie gab ihm Münzen zurück. Ihre Hände berührten sich. Er verließ das Geschäft. Als sie wieder oben war, kam es ihr so vor, als glühte ihre Hand. Nach dem Essen wollte sie, wenn sie saß, aufstehen, und wenn sie aufgestanden war, sich wieder hinsetzen. Piet flüsterte: »Bist du krank?«
»Nein«, sagte sie.
»Was ist denn los? Man könnte meinen, du hättest Hummeln im Hintern.«
Im Bett wälzte sie sich noch lange herum. Sie blickte zurück auf ihr bisheriges Leben. Abgesehen von dem Spaziergang auf der Coolsingel und der Lijnbaan war alles Trübsal. Während sie unter der Decke die Fäuste ballte, nahm sie sich vor, ihre Französischstudien wiederaufzunehmen. Warum machte sie nicht einen der Kurse, für die im Radioprogrammheft geworben wurde? Sie dachte an Herrn Cordia, der ihre Straße so trostreich Rue de Sandelin genannt hatte, der aber auch dieses elende Gedicht in ihr Poesiealbum geschrieben hatte.
In der Woche darauf bestellte sie einen Französischkurs. Sie saß im Wohnzimmer, lernte die Lektionen, sah nach draußen und dachte: »Wie schnell die Tage länger werden.« Was ihr vor dem Jahreswechsel wie eine endlose Reihe von Tagen erschienen war, an denen sie, bei ausgeschalteten Lampen, ab fünf Uhr in seine erleuchtete Küche hatte schauen können, kam ihr im Nachhinein vor wie ein nur kurzes, friedvolles Intermezzo, das die rasch länger werdenden Tage nun unsanft beendet hatten. Dennoch konnte sie abends hin und wieder, wenn Piet, der inzwischen Diakon geworden war, eine Versammlung des Kirchenrats besuchte, das Licht ausschalten und in seine Küche hinüberschauen. Meistens saß er dann dort und las. Eines Abends, es war bereits Ende Februar, hatte er um halb neun sein Buch zugeschlagen und war nach draußen gegangen. Sie konnte sehen, dass er nicht auf dem Zuiddijk erschien. Er musste also in Richtung Hoogstraat gegangen sein. Hastig zog sie einen Mantel an. Sie hastete durch die menschenleere Nieuwstraat und eilte über die Brücke am Zuidvliet. Auf der Wip, schon ziemlich außer Atem, verlangsamte sie ihren Schritt. Während sie hinaufging, sah sie ihn oben auf der Wip entlanggehen. Beim Rathaus warf er einen Brief in den Kasten. Er überquerte die Straße und schlenderte auf der Seite des Seemannshauses die Wip hinunter. Sie ging auf der Schleusenseite und wagte es nicht, sich umzusehen. Todmüde schwankte sie in die Richtung, aus der er gekommen war. Sie ging bis zum Sackträgerhaus und ruhte sich dort kurz aus, nahm all ihre Kräfte zusammen und ging weiter. Sie gelangte zur Treppe am Deich, die auf den Jokweg hinunterführte, und stellte gerade den linken Fuß auf die
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