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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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stammte, nicht verleugnen, aber es freute sie, dass all die Straßen und Gassen saniert werden sollten. Irgendwann einmal würde niemand mehr sagen können: »Dort ist die Sandelijnstraat.« Würde sie, wenn die Straße vom Erdboden getilgt war, endlich befreit sein von dem Samstagnachmittagsgefühl?
    Dann kam die Zeit, in der die ganze Stadt ihre unrechtmäßige Verbindung mit dem Lehrer Jan Kleywegt zu akzeptieren schien. In den beiden Kirchen saßen sie nicht mehr in Bänken, die ansonsten leer blieben. In Piets Laden rannten die Leute nicht mehr die Tür ein, und sie hieß jetzt wieder Ina Onderwater, nicht mehr »das Schnuckelchen, das überm Deich rumhurt«. Nur wenn, was in der Zeit zweimal passierte, ein neuer orthodox-calvinistischer Prediger berufen wurde und, frisch aus Friesland oder Drenthe importiert, den Ruf auch tatsächlich angenommen hatte, dann wurde der junge Kerl, sobald er installiert war, auf Schwester Hummelman losgelassen.
    Der Erste bekam nur den Refrain »Ich will die Scheidung« zu hören. Aber der Zweite, ein langer Schlaks, der noch nach Hörsaalbänken roch, wurde ganz unvermittelt mit einem neuen Problem konfrontiert. Nachdem er mit seinem blitzsauberen schneeweißen Taschentuch die beschlagene Brille geputzt – er war bei Regen gekommen – und wieder aufgesetzt hatte, da sah er voller Bestürzung, dass sie schwanger war. Alles, was er so mannhaft vorbereitet hatte – eine passende Passage aus der Heiligen Schrift, eine kleine, nette Strafpredigt, ein Gebet als Dolchstoß –, erwies sich als unbrauchbar. Jetzt, da sie ein unrechtmäßiges Kind unter dem Herzen trug, konnte sie nicht mehr zu Bruder Hummelman zurückkehren. Jetzt musste Hummelman sich so schnell wie möglich von ihr scheiden lassen, damit sie Kleywegt heiraten konnte, ehe das Kind geboren war. Der lange Schlaks sprach mit ihr über das Wetter und stieg dann wieder die Deichtreppen hinab. Später hörte sie, dass Piet Hummelman sich selbst jetzt nicht scheiden lassen wollte, sondern ihr, mit Kind und allem, immer noch vierhundertneunzig Mal vergeben wolle.
    Als das Kind, ein Junge, zur Welt gekommen war, zeigte es sich, dass alles Bisherige ein Kinderspiel gewesen war im Vergleich mit den Problemen, die sich nun ergaben. Der Junge konnte nicht getauft werden. Es sei denn … ja, es sei denn, sie kehrte zu Hummelman zurück. Dann könnte sie mit ihrem rechtmäßigen Ehemann ans Taufbecken treten. Dass es nicht sein Kind war, spielte keine Rolle. Das passierte schon öfter mal. Es ging darum, dass die Mutter und der rechtmäßige Vater gelobten, das Kind, wenn es zu Verstand gekommen war, in der prophezeiten Lehre zu erziehen und zu unterrichten.
    Sie hörte, dass die Leute Piets Laden erneut stürmten, obwohl er die Prüfung zum Einzelhandelskaufmann immer noch nicht bestanden hatte. Man nannte sie jetzt »das Schnuckelchen, das ein uneheliches Balg am Hals hat«. Es schien, als würde der Umstand, dass sie ihr Kind nicht taufen lassen konnte, ihre Entschlossenheit tatsächlich antasten. Sie sagte nicht länger, sie wolle sich von Piet scheiden lassen, sondern sie sagte, sie wolle das tun, was für das Kind am besten sei. Eines Tages stieg sie mit ihrem Sohn die Deichtreppe hinab, und zwei Sonntage später stand sie unter den erstaunten Blicken all jener, die die Rehobothkirche bis zum letzten Platz füllten, mit Piet Hummelman am Taufbecken. Am selben Abend stieg sie mit ihrem getauften Kind die Deichtreppe wieder hinauf. Sie wusste, was sie tat, sie wusste, was sie riskierte, aber dennoch erstaunte es sie, dass sie in den Tagen danach auf der Wip wiederholt zu hören bekam: »Warte nur, bis wieder ein Kind kommt, dann kannst du dir eine solche Sauerei nicht noch einmal leisten.«
    Merkwürdigerweise konnte sie das besser ertragen, als wenn man voller Bewunderung zu ihr sagte: »Da hast du die Pastoren aber tüchtig verarscht.«
    Sie hörte, das die Pastoren den Entschluss fassen wollten, sie auf der Stelle aus der Gemeinde zu werfen, und sie hörte auch, dass Piet, der dank einer enormen Umsatzsteigerung den Laden zum Supermarkt würde umbauen können, sich in der Versammlung des Kirchenrates entschieden gegen diese Maßnahme wehrte. Sie hörte, dass die Presbyter von über dem Deich für ihren Ausschluss plädierten, die Diakone von unter dem Deich jedoch dagegen. Wenn sie das Kind abends zu Bett gebracht hatte, saß sie mit der Französischgrammatik oder einem Buch von Simenon – der ein ganz einfaches

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