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Unter dem Deich

Unter dem Deich

Titel: Unter dem Deich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maarten 't Hart
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Wohnzimmer aufzuhalten kam ihr allerdings weniger seltsam vor, als permanent in der Küche zu sein. Ihr Nachbar las sogar in der Küche. Manchmal schaute er kurz von seinem Buch auf, und dann konnte es passieren, dass sie einander, wenn auch über eine große Entfernung, geradewegs in die Augen schauten. Weil er über dem Deich wohnte, schien es, als stammte er aus einer anderen Welt. Wenn sie ihm auf der Straße begegnete, grüßte sie ihn nicht einmal.
    Und nun kam er ihr entgegen, auf Höhe des Cineac, und wenn sie in gerader Linie weiterging, würde sie mit ihm zusammenstoßen. Vorsichtshalber wich sie schon mal aus, dachte sogar daran kehrtzumachen. Aber das wäre zu auffällig gewesen. Und dann sah sie, dass auch er auswich und sie abermals auf Kollisionskurs waren. Erneut wich sie aus, und er wich im selben Moment ebenfalls aus, und sie wusste, sie würden einander immer wieder ausweichen und so, gemäß dem geheimen Gesetz, das in solchen Fällen gilt, mit verblüffender Präzision zusammenstoßen, wenn sie nicht den mannhaften Entschluss fasste, nicht mehr auszuweichen. Er fasste den gleichen Entschluss, sie berührten einander, und sie sagte: »Entschuldigen Sie, bitte«, und ging weiter. Wäre sie danach bloß so klug gewesen, sich nicht umzuschauen, dachte sie später. Aber sie schaute sich um, und er schaute sich auch um. Rasch ging sie weiter, felsenfest davon überzeugt, dass er sie erkannt hatte.
    Später, in der zweiten Klasse nach Vlaardingen und, nach einem kurzen Zwischenhalt in ’t Hof, in der dritten Klasse nach Hause, sagte sie sich immer wieder: »Selbst wenn er mich erkannt hat, ist das kein Problem. Niemand verbietet mir, am Samstagnachmittag in meinen schönsten Kleidern und ein bisschen geschminkt auf der Coolsingel spazieren zu gehen. Und selbst wenn er das merkwürdig findet, wird er Piet bestimmt nichts davon sagen.«
    Dennoch stand sie am Abend im Wohnzimmer und sah von dort in seine erleuchtete Küche. Piet war im Laden beschäftigt; sie hatte die Lampe noch nicht eingeschaltet. Gegenüber sah sie ihn mit Töpfen und Schüsseln hantieren, und sie dachte: »Warum muss ein alleinstehender Mann so kompliziert kochen?« Trotzdem ging von dieser Geschäftigkeit etwas unaussprechlich Friedliches aus. Er sah nicht aus dem Fenster, er verquirlte ein Ei, pürierte Tomaten, er gab alles in eine Schüssel, goss aus zwei kleinen Bechern etwas hinein, fügte dann aus einer dicken, gedrungenen Cognac- oder Likörflasche ein paar Tropfen hinzu und stellte die Schüssel in den Backofen.
    »Was macht er nur?«, dachte sie.
    Piet kam herein, flüsterte: »Sitzt du noch im Halbdunkeln? Hast du etwas dagegen, wenn ich das Licht anmache?«
    Sie trat vom Fenster weg. Das Licht ging an, sie erschauderte.
    In der Woche drauf erschauderte sie erneut. Gleich nachdem die Turmuhr sechs geschlagen hatte, kam Piet die Treppe hochgestolpert.
    »Ist das nicht seltsam? Noch nie war unser Nachbar von gegenüber im Laden, aber vorhin hat er eine ganze Tasche voller Sachen gekauft.«
    »Oh, ja?«, konnte sie gerade noch sagen.
    »Ja. Und wie freundlich er war! Als wäre er schon seit Jahren Kunde bei uns. Aber er hat lauter so merkwürdige Dinge gewollt. Geräucherten Lachs, Ziegenkäse, ein Döschen Thymian.«
    »Vielleicht wäre es gar nicht verkehrt, wenn wir solche Sachen im Sortiment hätten«, sagte sie, »vielleicht sind die Leute hier allmählich so weit, dass sie auch mal etwas anderes essen wollen als Graupen oder braune Bohnen mit Sirup.«
    »Wir können durchaus dies und das mit ins Lager nehmen«, sagte Piet.
    Sie blickte nach gegenüber. Er würde sie nicht verraten, aber er hatte sie tatsächlich erkannt. Warum war er sonst am Montag im Laden erschienen?
    Jeden Tag schaute sie nun am Ende des Nachmittags aus ihrem unbeleuchteten Wohnzimmer in seine immer um Punkt fünf plötzlich in künstliches Licht getauchte Küche. Meistens fiel ein nieselnder Novemberregen, und sie hörte von unten die lauten Stimmen der Kunden im Laden. Sie sah, wie er allabendlich, oft unter Zuhilfenahme von Kochbüchern, eine reichhaltige Mahlzeit für sich zubereitete, etwas, das sie befremdete und fesselte, weil sie von Kindesbeinen an zu Mittag warm gegessen hatte. Da sie im ersten Stock stand und er im Erdgeschoss beschäftigt war, hatte sie immer das Gefühl, auf ihn hinabzublicken, obwohl seine Küche, dort über dem Deich, auf der gleichen Höhe lag wie ihr Wohnzimmer. Sie stellte einen Sessel ans Fenster, setzte sich

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