Unter dem Deich
Französisch schrieb, wie Jan immer sagte – auf dem Schoß da und schaute zu Piet hinüber. Jetzt, da sie nicht mehr bei ihm wohnte und sie sich weniger langweilte und er sich im Kirchenrat so leidenschaftlich für sie einsetzte, war es schwierig, ihn nicht zu mögen. Oder war das, was sie fühlte, wieder das alte Mitleid, dieses seltsame Gefühl der Überlegenheit, das nur dann zulässig war, wenn es mit sehr viel Liebe verbunden war. Sie dachte an ihre Brüder und Schwestern und daran, dass sie alle noch immer in so vollgestopften Zimmern lebten wie jenen, in denen sie ihre Jugend verbracht hatte. »Werde ich denn niemals davon loskommen?«, ging es ihr durch den Kopf. Entschlossen griff sie zu dem Buch, das sie gerade las, La Fenêtre des Rouet , und zwang sich, einige Seiten zu lesen.
Ein paar Wochen später hörte sie, dass wieder ein neuer Pastor berufen worden war, und ihr war klar, dass ihr ein Hausbesuch bevorstand. Sie war trotzdem nicht auf die Taktik dieses aus Bennebroek stammenden, kindlich wirkenden Mannes vorbereitet. Eines Abends klingelte es an der Tür. Jan öffnete. Da stand der neue Pastor. Er war nicht allein.
»Meine Frau und ich«, sagte er, »wollten mal vorbeischauen, um uns vorzustellen.«
Nie zuvor hatte sie eine wirkliche Freundin gehabt. Sie konnte es kaum fassen, dass sie am Sonntag darauf mit Maud zu Kirche ging, Maud, die mit ihrem eleganten riesigen Hut, den sie auch schon bei der feierlichen Einführung ihres Mannes getragen hatte, so viel Aufsehen erregte und auch mit dem »Hauch von Lippenstift«, wie sie eine Kirchenbesucherin entrüstet flüstern hörte. Von Maud erfuhr sie später, dass ihr Mann im Kirchenrat angekündigt hatte, das Problem Hummelman zu lösen, dass man ihm aber Zeit lassen müsse und dass natürlich nicht mehr mit dem Ausschluss aus der Gemeinde gedroht werden dürfe. Und nun ging sie, da Jan und sie abwechselnd auf das Kind aufpassen mussten und folglich nicht mehr gemeinsam zur Kirche gehen konnten, jeden Sonntagnachmittag zusammen mit Maud zum Gottesdienst und wagte es sogar, ebenfalls einen »Hauch von Lippenstift« aufzutragen. Außerdem trug sie das Kostüm, mit dem sie damals, vor langer Zeit, auf der Lijnbaan spazieren gegangen war. Es schien, als wären mit der Ankunft von Maud all ihre Probleme gelöst.
2
Es war ein großes Rätsel für sie, dass Maud ihre Freundin sein wollte. Sie dachte: »Maud weiß nicht, dass ich aus der Sandelijnstraat stamme.« Sie nahm sich vor, ihrer neuen Freundin nie davon zu erzählen. Maud sagte jedoch: »Komm, lass uns auf Abenteuer gehen.« Sie ging hinter ihrem Kinderwagen stundenlang an der Seite von Maud, die auch einen Kinderwagen schob, durch die Stadt. Maud sagte: »Wir können hier alles Mögliche anstellen, wir können stehlen, rauben, rumhuren – wer würde schon zwei Frauen mit Kinderwagen etwas Böses zutrauen, von denen die eine zudem noch die Gattin des Pastors ist?« Es gab allerdings in den tagsüber so stillen Straßen und auf der wochentags so ruhigen Mole nicht sonderlich viel zu stehlen. Als sie auf der zugigen Mole standen und ihren Blick über den Fluss schweifen ließen, sagte Maud: »Man könnte meinen, hier weht ständig ein Südwestpassat. Gibt es nirgendwo einen Park, wo wir unsere Kleinen herausholen und im Windschatten sitzen können?«
»Wir können zum Julianapark gehen«, sagte sie.
Sie schoben die Kinderwagen zu dem kleinen Park.
Maud sagte: »Nennst du das einen Park?«
»Nun ja«, sagte sie und vernahm das Rauschen zweier Sensen. Sie hörte den älteren Onderwater das Grasmäherlied anstimmen. Sie hoffte, er würde den Refrain und die zweite Strophe weglassen. Dann hörte sie die Stimme ihres Vaters. Sie verspürte den chronisch sengenden alten Schmerz, weil sie sich für ihren Vater schämte. Sie dachte: »Bestimmt hält er sich jetzt gleich mit dem Zeigefinger ein Nasenloch zu, um durch das andere den Rotz hinauszupusten.« Sie vernahm das widerliche Geräusch; ihr Herz zog sich zusammen. Maud sagte: »Was für ein Lied!« Und sie überlegte: »Wie würde Maud reagieren, wenn ich ihr verraten würde, dass einer der Mäher mein Vater ist?«
Maud stand auf. »Gibt es hier in der Stadt irgendwo einen netten Ort, wo wir unsere Kinder eine Weile rauslassen können?«
»Am Nieuwe Weg vielleicht«, sagte sie.
Die beiden Kinderwagen rollten über den Deich. In der Tiefe sah sie ihren Vater mähen. Maud sagte: »Die Männer tragen ja noch Holzschuhe!«
Sie erwiderte nichts,
Weitere Kostenlose Bücher