Unter dem Deich
irgendwann mal so lange mit dem Kreisel auf dem Markt gespielt?« Sie schlief wieder ein, der Kreisel drehte sich immer noch, sie sagte: »Hey, Mann, stör mich jetzt nicht, ich kann meinen Kreisel vielleicht ewig drehen lassen.«
»Darf ich kurz zu dir ins Bett kommen?«, fragte Maud, »mir ist so kalt, ich habe ein Gefühl, als würde mir nie wieder warm werden.«
»Meinetwegen«, sagte sie, »aber achte auf meinen Kreisel.«
Als Maud zu ihr ins Bett kroch, träumte sie plötzlich, es sei Sommer. Sie war im Schwimmbad und hielt für Maud die Kabinentür auf. Sie sagte: »Komm nur zu mir in die Kabine.«
Maud kam zu ihr in die Kabine. Da erwachte sie und sagte: »Du?«
»Du hast gesagt, ich darf.«
Sie rückte zur Seite, und Maud sagte: »Wie herrlich warm du bist.«
»Warst du dort?«
»Ja.«
»Und?«
»Zweimal bin ich angesprochen worden.«
»Mitgegangen?«
»Sie haben nur nach dem Preis gefragt.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Zum Glück.«
»Mir ist eiskalt.«
»Das merke ich.«
»Mir ist, als wäre mein Blut gefroren.«
»Ja.«
»Als ich fünfzehn war, bin ich das erste Mal in Paris gewesen. Mit meinem Vater. Er hat gesagt: ›Maud, heute Abend habe ich eine Besprechung im Verteidigungsministerium, bleib du in deinem Zimmer.‹ Mir kam das merkwürdig vor, und ich dachte: ›In einem Ministerium wird doch abends nicht gearbeitet?‹ Er ging los, und ich bin ihm gefolgt. Mit großen Schritten ist er vor mir her marschiert. Immer wieder musste ich ein Stück traben, um ihn nicht zu verlieren. Er ist zu einer der Straßen an der Champs-Élysées gegangen und hat dort eine wildfremde Frau angesprochen. Ich bin zurückgerannt, habe mich auf mein Bett geworfen und geheult, bis ich keine Tränen mehr hatte. Ich habe meinen Vater unendlich geliebt, ich dachte: ›Mein Vater? Macht mein Vater so was?‹ Und deshalb hat für mich all die Jahre festgestanden: Wenn ich dort anschaffe und mit einem Mann mitgehe, dann sind wir quitt. Dann kann ich ihn wieder so lieben wie früher. Aber alleine habe ich mich nicht getraut, verstehst du, ich habe mich wirklich nicht getraut, mich alleine da hinzustellen. Deshalb wollte ich dich … Mir ist so durch und durch kalt geworden, ich wünschte, ich hätte meinen Pelzmantel mitgenommen und hätte den anziehen können. Mir ist, als wäre mein Blut gefroren. Du bist so herrlich warm.«
Sie dachte: »Maud hat dort auf der Straße auf ihren Vater gewartet. Warum sagt sie das nicht?«
Erst am nächsten Morgen beim Frühstück wagte sie zu fragen, was sie bereits wusste.
»Dein Vater ist schon tot?«
»Ja«, sagte Maud, »ein Autounfall. Er hat mich irgendwo hingebracht. Ich hätte problemlos den Bus nehmen können, aber er hat darauf bestanden, mich zu fahren. Ich wurde aus dem Auto geschleudert und blieb unverletzt. Er war auf der Stelle tot. Die Lenksäule hat sich in seine Brust gebohrt. Überall war Blut. Es ist unvorstellbar, dass ein Mensch so viel Blut verlieren kann.«
5
Sie war vier Tage weg gewesen. Es kam ihr vor wie vier Jahre. Sie hatte bei Pascal gelesen: »Ein Mann muss nur fünf angenehme Tage andernorts verbringen, und er ist todunglücklich, wenn er zu seinen früheren Tätigkeiten zurückkehren muss.« Sie stellte fest, dass es bei ihr genau umgekehrt war. Nie zuvor war sie in ihrem Leben der Zufriedenheit, die ihr einmal empfohlen worden war, näher gewesen als in den ersten Wochen nach ihrer Rückkehr. Sie ging am Hafen spazieren und sog voller Wohlbehagen den Geruch von geteerten Ankerketten und der Fracht von Binnenschiffen ein. Jeden freien Augenblick nutzte sie für einen Spaziergang raus auf die Mole. Sie stand am Ufer der Maas und labte sich am Funkeln des Sonnenlichts auf den sanften Wogen. Am Schwimmbad nahm sie einen schmalen Pfad, der am Basalthang entlang nach Osten führte. Sie widerstand der Versuchung, am Wasser niederzuknien und daran zu riechen, an dem Wasser, dessen Wellenschlag die Geschichte ihres Lebens beherrschte. Mit ihren hochhackigen Schuhen und dem unvermeidlichen Chanel-Kostüm war sie eine Sehenswürdigkeit für die winkenden Besatzungen der Küstenschiffe. Sie winkte zurück und dachte: »Ich sollte etwas anderes anziehen.« Doch wenn sie am nächsten Morgen aufstand, griff sie voller Freude gleich wieder nach dem Kostüm. »Wenn ich es tagein, tagaus trage, ist es bald nicht mehr schön«, dachte sie und konnte trotzdem nur schwer auf das Kleidungsstück verzichten, das Ladeninhaber, bei denen sie ihre Einkäufe
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