Unter dem Eis
spielen, Karl-Heinz.«
Es ist bereits dämmrig, als Manni zum zweiten Mal an diesem Tag vor dem Haus der Stadlers parkt. Martina Stadler sieht endlich einmal nicht so aus, als würde sie frieren. Ihre nackten, nassen Füße stecken in Gummischlappen, das rote Haar ist zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, in der Hand hält sie eine Gießkanne. Nur ihr versteinerter Gesichtsausdruck verrät, dass ihre Welt aus den Fugen geraten ist.
»Ich weiß nicht, wo Frank ist«, sagt sie. »Ich weiß nicht, warum er sich nicht bei Ihnen meldet. Es wäre mir lieb, wenn die Kinder nicht mitbekämen, dass Sie schon wieder hier sind. Sie sind gerade eingeschlafen.«
»Wir haben jetzt das Ergebnis aus der Rechtsmedizin. Ihr Hund starb an einer Überdosis der Partydroge Ecstasy.«
Die Ungläubigkeit in ihren Augen wirkt echt.
»Kann es sein, dass Jonny Drogen nimmt?«
»Ausgeschlossen, nein, bestimmt nicht.«
Martina Stadler nimmt zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank.
»Alkoholfrei«, sagt sie. »Gehen wir in den Garten, ich muss die Blumen noch fertig wässern.«
Manni setzt sich auf die Steinstufen, die von der Terrasse hinab in den Garten führen. Er denkt an Miss Cateye, zum ersten Mal an diesem Tag. Dass es schön wäre, ihr beim Blumengießen zuzusehen, obwohl er doch bislang immer geschworen hat, dass diese ganze Zweierkisten-Alltagsbetulichkeit nichts anderes ist als ein grandioser Erotikkiller. Vielleicht müsste es ja nicht gleich ein gemeinsamer Garten sein, denkt er. Vielleicht hat sie ja sogar schon einen Garten. Er trinkt sein Bier und sieht Martina Stadler zu, wie sie sich den Schaum von den Lippen wischt, die Flasche auf einen Trittstein stellt, welke Blüten abschneidet, gießt und zupft und schließlich den Gartenschlauch aufrollt.
»Ich muss Ihren Mann zur Fahndung ausschreiben, Frau Stadler. Ich brauche ein Foto von ihm.«
Sie nickt abwesend, doch als sie zu sprechen beginnt, ist ihre Stimme sachlich. »Können Sie noch bis morgen warten? Wegen der Kinder. Wenn sich das hier herumspricht, wird das eine Katastrophe für sie, noch eine Katastrophe.«
Auf eine Nacht mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an. Ohnehin weist die Ecstasy-Spur eher ins Jugendmilieu. Aber wer weiß, vielleicht hat Jonny wegen der Misshandlungen seines Stiefvaters Drogen konsumiert. Oder der Stiefvater dealt mit Drogen. Oder dieser Petermann, schließlich ist da ja auch noch die Hollandidee, die durch die Drogen neue Brisanz erhält. Manni steht auf. »Das Foto nehme ich aber schon mit.«
Er wartet in der Küche, während Martina Stadler ein brauchbares Bild sucht. Stellt die beiden Bierflaschen nebeneinander auf die Spüle. Denkt an Miss Cateye, an einen weiteren Tag ohne Karatetraining, an seine Eltern und daran, wie sein Vater beim Rasenmähen gewütet hat, damals, als ernoch laufen konnte. Wie er geflucht hat und den Rasenmäher an den Rändern in die Blumenrabatten rammte, bis Mannis Mutter ihn weinend anflehte, die Gartenarbeit bitte künftig ihr zu überlassen. Manni fühlt sich so müde wie noch nie.
Es dauert lange, bis Martina Stadler wiederkommt, sie gibt ihm das Foto und ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt Papier.
»Einen Tag vor Jonnys Verschwinden hat Frank 20 000 Euro von unserem Konto abgehoben. Ich weiß nicht, warum.«
Die Sonne hat ihren Zenit überschritten. Längst hat die Insektenwolke Charlottes Vorratssack erobert. Judith lässt es geschehen. Tag, Nacht, Sonne, Regen, Leben, Tod – im Alltag kann man sich darüber hinwegtäuschen, dass man dem ausgeliefert ist, trotz aller technischen Errungenschaften ausgeliefert. Man verflucht den Moloch Stadt, verklärt die Natur und verdrängt, wie wenig man ihr gewachsen ist. Die eigentliche Macht in der Wildnis haben nicht die großen Tiere, hat David gesagt. Im Mai und Juni hältst du es hier kaum aus, die Mücken schlüpfen und fressen dich auf. Im September gibt es dann manchmal stecknadelkopfgroße Gnitten, du siehst sie nicht, aber du fühlst sie. Und du kannst nichts gegen sie tun.
Judith nimmt das Fernglas und sucht die Insel ab. Etwas an ihrer stillen Erhabenheit zieht sie an, je länger sie hier im Lager sitzt, desto mehr. Vielleicht ist es Charlotte ähnlich gegangen, bestimmt hat sie einen Abstecher auf die Insel gemacht. Vielleicht findet Judith da drüben eine Spur von ihr, vielleicht sogar eine Erklärung für ihr Verschwinden. Sie schiebt das Kanu aufs Wasser und hat die Insel nach wenigen Minuten erreicht. Stoische Bäume,
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