Unter dem Eis
sonst immer angeradelt kommt. Mach schon, Jonny, mach schon. Vor einem Jahr haben Jonny und er in der Schach-AG gemerkt, dass alle anderen keine echten Gegner für sie sind, und so haben sie immer öfter zusammen Partien gespielt, bald auch außerhalb der AG. Dann hat Jonny ihm zum ersten Mal Dr. D. anvertraut, ein echter Ritterschlag, und zum Glück ist Tim mit dem eigensinnigen Dackel klargekommen. Seitdem sind sie Freunde.
Jonny legt auf Freundschaft großen Wert. Indianerehre, Blutsbrüderschaft, Treue bis in den Tod – das sind so Worte, die er mag. Und warum, bitte schön, lässt er Tim jetzt hängen? Tim späht ein letztes Mal die Straße hinunter, bevor er sich auf sein Mountainbike schwingt. Wenn er so schnell radelt wie noch nie, kommt er vielleicht noch pünktlich. Nicht denken, nur treten, nicht denken, nur treten, wiederholt er im Kopf, im Takt seiner Tritte. Nicht denken, was er diesmal auf seinem Platz vorfindet. Nicht denken, dass Jonnys Vater gestern angerufen und nach Jonny gefragt hat, als ob er selbst keine Ahnung hätte, wo Jonny sein könnte. Nicht denken, wie eine Schulpause ohne Jonny ist. Nur treten.
Er erreicht Ostheim und die Bahnschranke bimmelt, aber Tim duckt sich im allerletzten Moment drunter durch, schleudert in eine Rechtskurve und bremst so hart, dass der Hinterreifen wegflutscht, als er durchs Tor des Schulgebäudes biegt. Das ganze Schulgelände ist eingezäunt, mit dicken, kantigen Eisenstäben. Wie ein Gefängnis. Nicht denken. Hastig kettet er sein Fahrrad an einen freien Ständer. Hat der Schulgong schon geläutet? Die Tür vom Klassenraum ist jedenfalls schon zu. Tim stößt sie auf und blickt im nächsten Moment in das empörte Gesicht seiner Lehrerin, fühlt, wie ihm die kalte, erwartungsfrohe Spannung seiner Klassenkameraden entgegenströmt, schrumpft zum Frosch, den sie gleich sezieren werden.
»’tschuldigung.« Tim zieht den Kopf ein und schleicht auf seinen Platz. Warte heute besser nicht auf Jonathan, hat seine Mutter gesagt und dabei so einen merkwürdigen Gesichtsausdruck gehabt. Aber natürlich hat seine Mutter keine Ahnungvon Jonny, von Tim und von ihrer Freundschaft. Tim lässt sich auf seinen Stuhl fallen, fühlt etwas ungewohnt Weiches auf der Sitzfläche und im nächsten Augenblick kracht ein Furz unter ihm heraus. »Rinker, Rinker, alter Stinker!«, Die Klasse johlt, und die Dolling starrt ihn an, als ob sie ihn töten will. Hitze schießt Tim ins Gesicht, er wagt nicht, sich zu bewegen, weil das Furzkissen dann sicher noch mal losgeht. Aber das ist auch keine Lösung, denn er muss ja sein Schulheft aus dem Rucksack holen und das Federmäppchen.
Wenn Jonny wirklich ohne ihn abgehauen ist, hält er das nicht aus.
Der Montag fängt genauso beschissen an, wie der Sonntag aufgehört hat, denkt Manni, während er im Fuhrpark die ausgelutschte Zündung einer der Schrottmühlen betätigt, die sie in der Chefetage des Polizeipräsidiums scheinheilig Dienstfahrzeug nennen. Die Klimaanlage funktioniert natürlich auch nicht, was bedeutet, dass er sich das Duschen hätte schenken können, denn auch wenn es noch früh am Tag ist, knallt die Sonne bereits aufs Dach, als bekäme sie es bezahlt. Auf dem Weg zum Fuhrpark ist Manni mit seinem Exchef Millstätt zusammengestoßen und die Erinnerung daran bessert seine Laune nicht. Statt endlich mal konkret zu werden und was über Mannis angeblich bevorstehende Rückkehr ins KK 11 zu sagen, hat Millstätt nur die Zähne gebleckt, Manni einen aufmunternden Klaps auf den Oberarm gegeben und ihm einen schönen Tag gewünscht. Scheinheiliger Scheißkerl, denkt Manni. Erst versaut er mir die Karriere und dann grinst er mich auch noch an, als sei er auf meiner Seite. Manni unterdrückt einen Fluch.
»Nicht dein Tag heute?«, fragt seine Kollegin Petra Bruckner, eine dralle Mittvierzigerin, die als Kinderexpertin gilt und Manni an die Seite gestellt worden ist, um im Fall des immer noch verschwundenen Jonny Röbel Befragungen durchzuführen. Die Maschinerie ist angelaufen, der Polizeiapparat tut seine Pflicht und fischt ein weiteres Mal mit voller Kraftim Trüben, der ewige Kampf gegen die Zeit. Eine Entführung von Jonny Röbel scheint ausgeschlossen, viel zu holen gibt es bei den Pflegeeltern nicht, auch gab es keine Drohbriefe oder erpresserische Anrufe. Die Durchsuchung von Jonnys Zimmer am Vorabend hat wenig Hilfreiches gebracht. Der Junge spielt gern Schach, interessiert sich leidenschaftlich für Indianer und liebt
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