Unter dem Eis
seinen Dackel. Er hat keine Probleme in der Schule, und – wenn man den Auskünften ihrer Eltern trauen darf – keiner seiner Freunde weiß, wo er steckt. Haben die Eltern also Recht und der Junge ist nicht abgehauen, sondern liegt irgendwo verletzt und hilflos im Königsforst? Wenn es so ist, wird die Hundestaffel ihn finden.
Frank Stadler erwartet sie wie verabredet an der Zufahrt des Grundstücks am Rande des Königsforsts, das er als Camp bezeichnet. Unter seinen Augen liegen Schatten, auf seiner Stirn perlt Schweiß, obwohl die Temperatur hier im Vergleich zur Kölner Innenstadt noch einigermaßen erträglich ist.
Das Camp entpuppt sich als Westernclub. Irgendein Spaßvogel hat wirklich und wahrhaftig »Kölsche Sioux« auf ein Brett geschrieben, das ans Eingangstor genagelt ist. Neben dem Tor befindet sich ein Hochstand mit Schießscharten, wie der Ausguck in einem Western-Fort. Hecken und Holzpalisaden versperren neugierigen Spaziergängern den Blick aufs Innere des Geländes, das teils mit Bäumen und Gebüsch bewachsen ist. Etwa in der Mitte des Grundstücks stehen drei Blockhütten mit weit vorgezogenen Vordächern. In ihrer Mitte ist eine Feuerstelle. Die Baumstämme, die im Kreis darumliegen, dienen offenbar als Sitzgelegenheiten. Manni kann sich durchaus Schöneres vorstellen, als sich in seiner Freizeit als Cowboy oder Indianer zu verkleiden und auf einem Stück Holz zu kauern, aber wenn man auf Wildwestromantik steht, ist das hier alles einwandfrei.
Dieselmotorengeräusch kündigt die Ankunft der Hundestaffel an. Gewohnt einsilbig lassen die Hundeführer ihre Belgischen Schäferhunde aus den Transportboxen springen. Stadlers Augen flackern nervös zu den Tieren, die an ihren Leinen zerren und hecheln. Ihre Muskelpakete zeichnen sichunter dem glänzenden rötlichen Fell ab, die dunklen Ohren sind gespitzt.
»Glauben Sie, die können Jonny jetzt noch finden?«, fragt Stadler.
»Sie würden sich wundern, was die alles riechen«, erwidert Manni und fragt sich, ob Stadler sich wohl mehr darum sorgt, dass die Hunde seinen Stiefsohn aufspüren könnten, oder dass nicht. Unmöglich, das hier und jetzt zu entscheiden, Stadlers Gesicht verrät lediglich, dass er angespannt und übernächtigt ist. Wenn er wenigstens sagen würde, wann genau er seinen Stiefsohn zum letzten Mal gesehen hat.
Die ersten Hundeführer gehen mit ihren Tieren Richtung Wald. Der Königsforst ist schwieriges Gelände – zu viel Unterholz, viel zu viele Brombeerranken, schlecht begehbar, kaum einsehbar. Sie haben das Gebiet in Planquadrate aufgeteilt, aber selbst mit den Hunden kann es Tage dauern, bis sie den Jungen gefunden haben – oder zumindest einigermaßen sicher sein können, dass er nicht im Königsforst ist. Leider ist auch die Spurenlage nicht gerade einfach. Schließlich haben hunderttausende naturbesessener Kölner Bürger Tag für Tag nichts Besseres zu tun, als sich im Königsforst mit ihren Kötern, Fahrrädern, Picknickkörben und Walking-sticks zu tummeln und dabei nicht nur jede Menge Spuren zu hinterlassen, sondern zugleich auch die Spuren anderer zu zertrampeln. Von wegen grüne Idylle. Aber Zeit, über die Naherholungsbedürfnisse seiner Mitbürger zu philosophieren, hat Manni nicht. Er zeigt auf den Hochstand und wendet sich an Stadler.
»Ich nehme an, hier oben sitzt jemand von Ihnen und beobachtet, wer so kommt und geht, wenn sich Ihr Club hier im Lager trifft?«
Stadler nickt. »Während der Spiele.«
»Wer war das am vergangenen Wochenende?«
»Es tut mir leid, das ist alles sehr belastend.« Stadler wischt sich über die Stirn.
»Können Sie wenigstens sagen, wer am Wochenende außer Ihnen und Jonny im Lager war?«
»Nun, es war sehr voll. Wir waren bestimmt über 30 Mann. Das Wetter war ja schön und alle wollten noch mal zusammenkommen vor den Schulferien. Hagen Petermann, unser Vereinsvorsitzender, führt immer eine Anwesenheitsliste.«
»Ich brauche diese Liste. Überhaupt brauchen wir Namen und Anschriften aller Mitglieder Ihres Vereins.«
»Ja, natürlich.« Einer der Hunde schlägt an und Stadler zuckt zusammen. Er ist nervös, denkt Manni. Nicht besorgt, sondern nervös. Vielleicht hat das nichts zu bedeuten. Vielleicht doch. Auf jeden Fall sind seine Gedächtnislücken ein Problem für die Ermittlungen. 30 Leute befragen, wahrscheinlich mehr. Das dauert. Und wenn sie bei den Vernehmungen irgendwas versieben oder übersehen, haben sie Pech gehabt, denn nächste Woche wird der
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