Unter dem Eis
zu viel Angst hatte für einen Jungen seines Alters. Er lenkt den Wagen auf die Severinsbrücke. Die Stadt liegt da, als warte sie auf etwas. Den Regen vielleicht. Erlösung, die nicht kommen will.
Dienstag, 2. August
Ein Knall weckt sie auf, ein Luftzug, das Prasseln von Regen. Sie weiß nicht, wo sie ist, wie lange sie geschlafen hat, wie spät es ist, registriert wie durch Watte, dass sie zugleich schwitzt und friert. Im Traum hat sie sich in einem See verloren. Du kannst nicht schwimmen, hat eine Stimme gewarnt, und im selben Moment hat Judith die Finsternis bemerkt, schwarzes Wasser, das sie nach unten zog. Sájvva, hat eine andere Stimme gesungen, die Welt der Toten am Grund des Sees, komm. Da erst hat Judith die Augen der Eistaucher gesehen. Rote Punkte, die sie umtanzten, betören wollten.
Ihr Herz rast, sie tastet nach ihrem Handy. Sie liegt in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa, immer noch in derselben Kleidung, die sie vor einer halben Ewigkeit in Kanada angezogen hat. Die Luft um sie herum scheint zu stehen und auf ihren Körper zu drücken, eine fast greifbare, dichte warme Masse. Judith setzt sich auf. Sie kann sich nur schemenhaft daran erinnern, wie sie in ihre Wohnung gekommen ist. Sie muss die Fenster geöffnet haben, war zu müde, sich auszuziehen und ins Bett zu kriechen. Das Display ihres Handys zeigt 6.30 Uhr. Der Regen draußen wird heftiger. Dickbauchige Gewitterwolken verschlucken das Morgenlicht. Blitze zucken über den Dächern, tauchen sie in Brombeerfarbe.
Auf dem Parkett liegt immer noch Charlottes Gemälde. Der Eistaucher wirkt beinahe plastisch im flackernden Zwielicht und scheint Judith anzusehen. Ein Blick aus einer unerreichbaren Welt, für immer rätselhaft, wie kalte Glut.
»Schöne Scheiße hast du mir da eingebrockt«, sagt sie, will den Eistaucher unter das Sofa schieben, aber aus irgendeinem Grund erscheint ihr das falsch, also lässt sie ihn liegen. Sie steht auf und die Tagbilder kommen mit Gewalt zurück. Ein toter Junge, ein toter Hund, ein anderer Junge, vielleicht ebenfalls tot oder vielleicht, hoffentlich, in diesem Moment nur außer sich vor Angst, weil jemand ihn gefangen hält und töten will. Charlottes trauriges Lächeln, damals, als Judith sie nicht mehr besuchen wollte. Das Gekicher und vernichtende Schweigen ihrer Mitschülerinnen. Der Mann mit den Vorstrafen und den warmen Händen, nach denen sich Judiths Körper immer noch sehnt. Keine Spur von Becker, hat Margery gestern am Telefon gesagt. Noch kein Ergebnis aus der Rechtsmedizin. Atkinson ist nicht zu knacken, schwört, dass er nichts mit Charlottes Tod zu tun hat. Judith zieht sich aus und tritt auf die Dachterrasse. Regen strömt über ihre nackte Haut. Zu früh gekommener Regen, der keine Erleichterung bringt, mitten in einem ungelösten Fall.
Sie geht ins Badezimmer, stopft ihre schmutzige Kleidung in den Wäschekorb, lehnt sich in der Duschkabine an die Fliesen und seift sich ein, ein sinnloser Versuch, die Erschöpfung fortzuwaschen und die Beklemmung. Die Müdigkeit lauert in ihrem Körper, ein Raubtier, das Kräfte sammelt, um bald wieder loszuspringen. Judith trocknet sich ab, cremt sich ein, zieht sich an, stopft Akten und Handy in ihre Schultertasche.
Als sie auf die Straße tritt, hört der Regen auf, so abrupt, wie er begann. Ihre Haare sind trotzdem nass, sie hat vergessen, sie zu föhnen. Sájvva, raunt die Stimme aus ihrem Traum, ein fernes, kaum wahrnehmbares Echo. Judith denkt an den Jungen Tim, der das Wasser liebt und nun verschwunden ist. Nachher trifft sie sich mit seinem Psychologen, vorher will sie noch mit Manni sprechen, mit Millstätt, mit Karl-Heinz Müller, vielleicht gibt es ja schon neue Erkenntnisse. Sie muss wieder Fuß fassen im KK 11 , Präsenz zeigen, sich ihre Position zurückerobern, den Fall lösen und vor allem Tim finden. Den Jungen retten, wenn das überhaupt noch möglich ist. Wieder hat sie das Gefühl aus dem Traum, das Gefühl, ins Bodenlose zu sinken. Ruhig, ganz ruhig, beschwört sie sich. Eins nachdem anderen. Ein Fahrzeug der Straßenreinigung sirrt an ihr vorbei, sein orangefarbenes Warnlicht leckt an den Hausfassaden. Judith läuft Richtung Volksgarten und versucht sich daran zu erinnern, wo sie vor der Kanadareise ihre Ente geparkt hat.
Die Auskunft der Einsatzzentrale ist knapp und eindeutig: Ralf Neisser ist noch immer verschwunden, ebenso Tim Rinker. Zufall? Täter und Opfer? Aber wenn Ralf Neisser der Täter ist – was ist dann mit Petermann? Der
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