Unter dem Eis
beginnen die Schulferien, dann ist es quasi unmöglich, noch etwas über Tim zu erfahren. Wenn sie nur wüssten, wo Jonny gefangen gehalten worden ist. Aber die Stunden im Wasser haben alle Spuren an seinem Körper zunichte gemacht. Und niemand will gesehen haben, wie der Leichnam zum See transportiert wurde.
Manni gibt Gas, drischt den Wagen auf den schon vertrauten Weg zur Schule, als ob er die Lösung des Falls mit dem Gaspedal beschleunigen könnte. Zu wenig Zeit, zu viel steht auf dem Spiel. Er hätte im Präsidium endlich sagen müssen, was Sache ist, sich freinehmen für die Beerdigung, freinehmen um Dreck auf einen schwarzlackierten Sarg zu schippen, den seine Mutter ausgerechnet mit Rosen dekorieren möchte. Ferrarirot wäre tatsächlich die falsche Farbe gewesen. Viel zu positiv, viel zu warm. Mit jeder Minute sinkt die Chance, Tim Rinker noch lebend zu finden.
»Es genügt, ein klein wenig anders zu sein, um zur Zielscheibe von Hänseleien zu werden«, erklärt der Psychologe Joachim Wallert.
»Unsportlich, dick, falsch gekleidet …«, zählt Judith auf und muss unwillkürlich an Berthold und Charlotte denken.
»Oder das Gegenteil. Ein Schüler, der ein besonderes Talent hat und dadurch andere überflügelt, wirkt auf seine Mitschüler beängstigend und das zahlen sie ihm heim.«
»Mobbing als Mittel, Konkurrenten in Schach zu halten. Ist es das, was mit Tim geschah?«
Wallert nickt. »Tim ist gewissermaßen ein ideales Opfer. Schüchtern, eher schmächtig. Aber aus wohlhabendem Elternhaus und enorm phantasiebegabt und intelligent.«
»Wie lange war er bei Ihnen in Behandlung?«
»Ein halbes Jahr.«
»Was haben Sie getan?«
»Wir haben geredet. Wir haben verschiedene Rollenspieleausprobiert, um Tims Selbstbewusstsein zu stärken.«
»Und dadurch hat sich sein Problem gelöst?«
»Eigentlich nicht. Aber er wollte nicht mehr zu mir kommen. Und seinen Eltern schien das nur recht zu sein.«
»Er hat einen Mitschüler zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt.«
»Wenn es so war.« Wallert dreht an seinem Ehering, eine vermutlich unbewusste Angewohnheit.
»Wie könnte es denn sonst gewesen sein?«
»Angst.« Der Psychologe dreht immer noch an seinem Ring. »Das Opfer klagt an, die Täter werden bestraft oder zumindest zurechtgewiesen. Und rächen sich durch noch größere Quälereien, nur eben im Verborgenen. Und irgendwann geben die Opfer auf, vertrauen sich niemandem mehr an, vereinsamen, weil sie verinnerlicht haben, dass ihnen niemand helfen will. Neulich stand ein Extremfall in der Zeitung. Drei 15 -Jährige hatten einem schlafenden Mitschüler auf einer Klassenfahrt schwerste Verbrennungen an den Beinen zugefügt. Der Junge durchlitt tagelang höllische Schmerzen, ohne ein Wort zu sagen.«
Angst. Die Angst, die Manni bei Tim gespürt hat. Die Weigerung des Jungen, der Polizei zu helfen. Das schwarze Bild. Jonnys Messer in Tims Zimmer. Charlottes Schweigen nach ihrer Geburtstagsfeier, zu der niemand kam.
»Aber Tim hatte Jonny«, sagt Judith zu laut und merkt selbst, wie trotzig das klingt.
Der Psychologe sieht sie an, doch wenn ihm die Heftigkeit ihrer Reaktion aufgefallen ist, zeigt er es nicht. »Tim hat Jonny vergöttert«, sagt er. »Jonny war sein Idol, sein Schutzschild. Wenn Tim die Pausen mit Jonny verbrachte, ließen ihn die anderen in Ruhe. Aber Tim war trotzdem extrem misstrauisch, weil sein Selbstwertgefühl so labil war. Tief im Inneren war er überzeugt, dass seine Peiniger Recht hatten, dass er tatsächlich nicht liebenswert sei. Er fürchtete ständig, Jonny könne sich mit ihnen verbünden. Also spionierte er Jonny nach und erwog sehr sorgfältig, was er ihm erzählte.«
»Aber Jonny muss Tims Probleme doch gekannt haben.«
»Wohl nicht im vollen Umfang.«
»Was wissen Sie über die Täter?«
Der Psychologe blättert in seinen Akten. »Tim hat häufig einen Lukas erwähnt. Ein Mitschüler, so etwas wie der Meinungsführer der Klasse.«
»Lukas Krone. Der mit dem iPod.«
»Und ein Vik ist wichtig. Nicht aus Tims Klasse, aber auf dem Schulhof sehr aggressiv gegen Tim. Für Tim war das doppelt schlimm, weil dieser Vik mit Tims Cousine befreundet ist.«
»Ivonne Rinker.«
»Genau. Tim und Ivonne waren sich früher sehr nah. Auch Ivonne litt wohl unter Hänseleien ihrer Mitschülerinnen. Dann wechselte sie auf Tims Schule, um einen Neuanfang zu machen, und plötzlich wollte sie nichts mehr von Tim wissen.«
»Man muss sehr stark sein, um sich als Jugendliche gegen
Weitere Kostenlose Bücher