Unter dem Eis
dass Jonny sich, wie alle Jungs aus der Stufe neun, in Ivonne verlieben könnte. Das hätte bedeutet, dass seine Cousine ihn bei Jonny hätte schlecht machen können. Tim hat diese Befürchtung natürlich für sichbehalten, aber als Ivonne dann mit Viktor ging und Jonny sagte, das sei ihm egal, ist er doch sehr erleichtert gewesen. Dabei kann er beim besten Willen nicht verstehen, wie Ivonne den blöden Sitzenbleiber Viktor anhimmeln kann. Aber das ist nicht sein, sondern ihr Problem.
Jetzt schließt Chemielehrer Mohr die Tür zum Laborgebäude ab, rüttelt noch einmal daran, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich zu ist, und setzt sich in Bewegung Richtung Haupthaus. Und wo bleibt Jonny? Die Sorge um den Freund reißt Tim aus seiner Erstarrung. Er rennt zu Mohr, ohne sich um die hämischen Blicke der anderen Schüler zu scheren.
»Entschuldigen Sie, ich suche Jonny, Jonathan Röbel. War er denn heute nicht im Unterricht?«
Mohr mustert ihn aufmerksam. »Nein.«
»Aber …«
Immer noch dieser Röntgenblick. »Aber was?«
»Ach, nichts.«
»Wirklich? Du siehst aber nicht so aus, als ob nichts wäre. Willst du mir etwas sagen? Weißt du, wo Jonathan steckt?«
»Nein, nein.« Nichts wie weg, denkt Tim, nichts wie weg, und beginnt zu rennen. Geht niemanden was an, braucht niemand zu sehen, dass ihm die Tränen in die Augen schießen. Er rennt am Laborgebäude vorbei, über die Wiese auf den Hügel, wo er sich hinter einen Busch kauert und den Schulhof beobachtet. Sein Mund ist ganz trocken, und sein Herz hämmert beinahe so heftig wie am Morgen, als er sich so mit dem Rad beeilt hat. Wo ist Jonny? Ist er etwa allein nach Radebeul gefahren? Karl May besuchen, die Villa Bärenfett und Winnetous Silberbüchse? Aber das kann nicht sein, sie wollten doch zusammen hin. Tim war sogar bereit, einen Teil seines Ersparten für dieses Abenteuer mit seinem Freund abzuzwacken, und als er das Jonny anvertraute, gab der Freund ihm die Hand. Also abgemacht, mein Bruder, sagte er, auf diese komisch-feierliche Art aus seinem Indianerclub.
Jonny ist zuverlässig, er lässt niemanden im Stich, so ist Jonny nicht. Also ist Jonny nicht in Radebeul. Aber wo ist er dann? Jonny steckt in ernsten Schwierigkeiten, das weiß Tim auf einmal mit einer Sicherheit, die in seiner Brust sticht. Undnun biegt auch noch ein Polizeiauto in die Schuleinfahrt, im selben Moment, als der Schulgong das Ende der Pause verkündet. »Das hat nichts mit Jonny zu tun, gar nichts«, flüstert Tim. Aber sein Herz hämmert immer weiter, bum, bum, bum, und plötzlich weiß Tim, warum es das tut. Weil er Angst hat, eine schreckliche, finstere Angst, die er so nicht kennt.
Das Schlagen der Rotorblätter kommt näher, wird laut, unerträglich laut, dröhnt über ihren Köpfen. Der Polizeihubschrauber taucht über den Baumwipfeln auf, schwenkt einmal über das Indianercamp, der Pilot winkt ihnen zu und dreht ab Richtung Wahner Heide. Auch eine Art, sich zu verabschieden, denkt Manni. Eineinhalb Stunden lang haben die Kollegen das Territorium aus der Luft überprüft und dabei weder einen 14 -jährigen Jungen noch einen Dackel entdeckt. Was überhaupt nichts heißen muss, denn nur wenige Lichtungen und Wege des Königsforsts sind aus der Luft überhaupt einsehbar. Manni tritt gegen den Reifen des Dienstschrott-Focus. Bleibt also noch die Hundestaffel, aber die Spürhunde kommen nur langsam voran, viel zu langsam, wenn man bedenkt, dass der Königsforst gut 25 Quadratkilometer groß ist und dass irgendwo im Unterholz seit über 48 Stunden ein hilfloser Junge liegen könnte.
»Komm, Nancy, Pause«, Kurt, der älteste Hundeführer, kippt Wasser in einen Napf und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Scheißbrombeeren. Ich fühl mich wie im Dschungelcamp. Fehlt nur noch das Kamerateam.«
»Verschon uns.« Manni starrt auf die Karte, die er auf der Kühlerhaube seines Autos ausgebreitet hat, seiner provisorischen Einsatzzentrale. 20 bis 25 Minuten lang wird ein Hund eingesetzt, haben die Hundeführer ihm erklärt. Dann wird er erst mal abgelöst und darf sich erholen von all den tausend Eindrücken, die seine Nase ihm beschert hat. Das Problem ist, dass die Hunde zwar verdammt gut riechen können, aber einem verwesenden Eichhörnchen dieselbe Aufmerksamkeit zuteil werden lassen wie einem Jogger oder einem verletztenJungen. Dafür kann man immerhin ziemlich sicher sein, dass das Gelände, das sich die Hunde vorgenommen haben, sauber ist. Und dass sie
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