Unter dem Eis
ein Rezept aus Marokko.«
»Danke.« Vielleicht ist es das, was ich suche, denkt Judith. Ein exotisches Land, eine andere Welt. Vielleicht hätte ich schon längst verreisen sollen, statt die letzten Urlaubswochen auf meiner Dachterrasse zu verbringen, in Biergärten, am Rhein und auf Bouleplätzen. Sie trinkt von dem Tee, der stark und erfrischend schmeckt, sieht zu, wie die schlanken Finger ihres Gegenübers sich an einem Tabakpäckchen zu schaffen machen. Die Monate, die hinter ihr liegen, sind hart gewesen. Freiwillig hatte sie sich beurlauben lassen, um in ihre persönliche Hölle zu gehen, und immer, wenn sie gedacht hatte, jetzt ist es genug, jetzt halte ich es nicht mehr aus, jetzt habe ich wirklich keine Tränen mehr, war es doch noch weiter hinuntergegangen.
Das hat nichts mit mir zu tun, diese Menschen haben nichts mit mir zu tun, was soll mir das bringen, hat sie gedacht, als sie schließlich in diesem Stuhlkreis saß. Aber natürlich war das ein Irrtum. Aushalten hat sie in dem Stuhlkreis gelernt. Die Tränen. Die Wut. Sich selbst. Die anderen. Bis sie eines Morgens aufwachte und da war keine Trauer mehr um den verlorenen Freund, keine Verzweiflung mehr über die Unsinnigkeit seines Todes, keine Frage mehr nach dem Sinn, sondern etwas Neues, was sie so nicht gesucht und erst recht nicht erwartet hatte: Hunger nach Leben.
Piet zündet seine Zigarette an. Judith streckt die Beine aus und dreht sich ebenfalls eine, genießt, wie sich Rauch undPfefferminzgeschmack auf ihrer Zunge vereinen. Ich habe Lust, hier einfach sitzen zu bleiben, mit Piet zu plaudern, ihm beim Malen zuzusehen und die Katze zu streicheln, denkt sie. Sie versucht sich vorzustellen, was Charlotte von Piet gehalten hat, diese Frau, die ihr Erwachsenenleben scheinbar ausschließlich mit ihren Puppen verbrachte, mit den kranken Eltern und deren Definition davon, was Lebenssinn ist. Berthold hat Recht, denkt sie. Charlotte ist in Gefahr, es kann nicht anders sein. Sie hebt Charlottes Bild auf ihre Knie, so dass Piet es ansehen kann.
»Hast du das gemalt?«
Er bläst Rauch Richtung Decke und nickt. »Seltsamer Vogel.«
»Tolles Bild. Für wen hast du das gemalt?«
»Ich dachte, du kennst sie, wenn du ihr Bild hast.«
»Ich kannte sie mal. Jetzt suche ich sie. Wenn wir überhaupt von derselben Person sprechen.«
»Frau Simonis. Vornamen wollte sie mir nicht verraten.«
»Diese hier?« Judith zeigt ihm das Wanderfoto aus dem Arbeitszimmer, das Charlotte und ihren Vater zeigt. »Jetzt ist sie älter.«
Der Maler lässt sich Zeit, dreht das Bild ins Licht. Dann nickt er.
»Charlotte Simonis«, sagt Judith. »Erzähl mir von ihr.«
»Ich kenn sie doch gar nicht.«
Judith lächelt ihn an. Er hat sehr sinnliche Lippen und verträumte Augen. Vielleicht sollte sie ihn küssen oder zumindest fragen, ob er eine Partie Boule mit ihr spielt. Später, wenn die Hitze nachlässt. Was für ein Quatsch, denkt sie. Ein rastalockiger junger Maler ist doch keine Lösung. Sie räuspert sich, setzt sich aufrechter hin.
»Hast du mit ihr gesprochen, als sie dich beauftragt hat? War sie hier?«
»Ja, klar. Aber sie hat nicht viel gesagt. Irgendwie war sie genauso strange wie ihr Vogel. Sie hatte so was Verhuschtes. Aber dieser Vogel hier, der hatte es ihr echt angetan. Sie ist ’n paar Mal gekommen, um zu gucken, ob ich auch alles richtig male, jedes Detail musste stimmen, nichts durfte von der Vorlage abweichen, da war sie total besessen, das hat sie schon am Telefon betont, bevor sie überhaupt hierher gekommen ist; erst als sie merkte, dass alles genau so wird, wie sie es wollte, wurde sie ’n bisschen lockerer.« Er grinst. »Kunden! Und du sagst, du suchst sie?«
»Was war das denn für eine Vorlage?«
Piets Gesicht verdüstert sich. »Ich steh heut offenbar auf’m Schlauch. Deshalb bist du also hier.«
»Wieso? Was ist denn mit der Vorlage?«
»Ich hab sie verloren. Ehrlich, so was passiert mir sonst nie. Das hat deine Freundin fuchsteufelswild gemacht. Ich musste schließlich 100 Euro mit dem Preis runtergehen, um sie einigermaßen zu beruhigen. Und noch Monate später rief sie hier immer mal wieder an, ob ich ihre Postkarte nicht doch noch gefunden hätte.«
»Aber das hattest du nicht.«
»Nein, zwei Jahre lang nicht. Aber vor ein paar Wochen ging mein Kühlschrank kaputt, ich rück ihn also ab und was steckt hinter der Rückwand?«
»Die Postkarte?«
Piet nickt. »Ich hab sofort versucht, sie zu erreichen. Aber die Telefonnummer,
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