Unter dem Eis
die sie angegeben hatte, war von der Uni, und dort sagte man mir, sie arbeite da nicht mehr, bei ihrer Privatnummer ging nie jemand ans Telefon und die Adresse hab ich nicht.«
Jetzt will sie ihn nicht mehr küssen, jetzt ist etwas anderes wichtig. Judith lehnt sich vor und fängt Piets Blick ein. »Ich brauche diese Postkarte.«
»Moment mal. Sie ist meine Kundin, und ich rede hier und rede, und dabei weiß ich von dir nicht mal den Namen.«
»Judith. Tut mir leid, ich kann dir nicht viel erklären, weil ich selbst nicht viel weiß. Aber diese Postkarte könnte mir helfen, meine alte Freundin zu finden. Ich glaub, sie steckt in Schwierigkeiten. Komm schon, Piet, lass mich wenigstens einen Blick draufwerfen.«
»Bist du Detektivin oder so was? Das klingt wie in ’nem Krimi.«
»Es ist wirklich wichtig.« Sie lässt seinen Blick nicht los.
»Also gut, weil du es bist.« Piet verschwindet hinter dem Vorhang und kurze Zeit später hält er Judith eine Postkarte hin. »Ontario«, steht über dem Eistaucher. Davon abgesehen hat Piet wirklich ganze Arbeit geleistet, das Gemälde wirkt wie die fotokopierte Vergrößerung des Postkartenmotivs. Judith dreht die Postkarte herum. »Dear Charlotte, one day we’ll make it come true. Terence«, hat jemand in schwungvollen schwarzen Tintenzügen auf die Rückseite geschrieben. Kanada, denkt Judith. Charlotte ist nach Kanada gefahren, um mit irgendeinem Terence einen Traum zu verwirklichen, und dieser seltsame Vogel hat etwas damit zu tun. Sie fühlt ein Prickeln auf ihrer Haut, ein vertrautes Prickeln, das sie von früheren Ermittlungen kennt. Es ist kein gutes Zeichen. Es ist eine Warnung.
Die Art, wie die Polizistin ihn anschaut, erinnert Tim an die Dolling. Ihr Mund lächelt, ihre Stimme klingt freundlich, aber ihre Augen sind hungrig und lauern. Ihr Kollege sieht eigentlich ganz okay aus mit seinen Nike-Sportschuhen, den verwaschenen Jeans und dem blonden, kinnlangen Haar, aber bislang hat er noch nichts gesagt, sondern sitzt einfach nur da. Tim wünscht sich, dass er einfach verschwinden könnte, so wie ein Clownfischbaby zwischen den Tentakeln der Seeanemone. Als dieser Film »Findet Nemo« im Kino lief, ist Tim natürlich reingegangen. Und klar war der Film toll und spannend. Aber in Wirklichkeit, das weiß Tim aus seinen Büchern, ist ein Clownfisch sehr viel schlauer als dieser Nemo. Ein echter Clownfisch verlässt seine Wirtsanemone nicht und deshalb können ihm Räuber nichts anhaben. Die Anemone nesselt nämlich, das Gift ihrer Tentakel kann sogar Menschen verletzen, nur Clownfischen macht das nichts aus, weil sie damit aufgewachsen sind. Wenn Gefahr droht, zwicken Clownfische ihre Wirtsanemone sogar, damit sie ihre Tentakel schützend über sie breitet und noch mehr Nesselgift absondert. Tim unterdrückt einen Seufzer. Er wünscht sich wirklich dringend eine schützende Anemone. Und noch vieldringender wünscht er sich, dass Jonny, sein Freund Jonny, von dort zurückkommt, wo er ist, heil und unversehrt, so wie der leichtsinnige Nemo.
»Du bist also mit Jonny befreundet«, wiederholt die Polizistin, die der Schuldirektor ihm als Frau Kommissarin Bruckner vorgestellt hat. Mitten aus dem Unterricht haben sie Tim geholt und in einen leeren Klassenraum gebracht, weil die Kinder aus Jonnys Klasse gesagt haben, dass Jonny und Tim jede Pause miteinander verbringen.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Tim.« Die Kommissarin macht Raubfischaugen.
»Ich hab heute Morgen auf Jonny gewartet«, sagt Tim. Seine Stimme klingt viel zu leise, das merkt er selber, er kann es nicht ändern.
»Aber er ist nicht gekommen.«
»Nein.« Er kann dieser Raubfischfrau doch nicht von Radebeul erzählen, Jonnys geheimen Traum verraten. Die Kommissarin bedenkt ihren Kollegen mit einem säuerlichen Blick und zieht fragend die Augenbrauen hoch. Beinahe unmerklich nickt der mit dem Kopf, stützt die Ellbogen auf den Tisch und sieht Tim an. »Gab es jemanden, der Jonny nicht mochte? Hat er in letzter Zeit mit jemandem gestritten?«
Tim schüttelt den Kopf.
»Wann hast du ihn denn zum letzten Mal gesprochen?« Die Stimme der Kommissarin schneidet dazwischen. Keine Ausflüchte, heißt das. Wir haben die Macht. Also tu, was wir dir sagen. Der Jeanskommissar macht eine Bewegung mit der Hand, als wolle er seine Kollegin wegwischen. Sie kneift die Lippen zusammen.
»Freitagabend.« Entsetzt merkt Tim, dass ihm bei der Erinnerung an den Nachmittag am Baggersee Tränen in die Augen schießen.
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